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Abtruennig

Abtruennig

Titel: Abtruennig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Dungs
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ganze Weile, bis ich das große Haus überhaupt sehen konnte. Die Ashtons mussten wahrhaftig in Reichtum schwelgen. Die Tatsache, dass Lesley trotzdem mit dem Fahrrad zur Uni fuhr, machte sie nur noch attraktiver. Wäre sie doch nur eine hässliche Zicke geworden, dann wäre ich sicherlich nicht die Auffahrt zum stattlichen Haus hoch gerollt und ich müsste mich nicht mit meinem Gewissen um die Oberhand in meinem Kopf streiten. Und wie sollte ich erst Peter davon erzählen? Zu seinem und vor allem zu Lesleys Schutz durfte er eigentlich gar nichts mehr erfahren. Ich parkte den Wagen auf einem, der drei kiesbedeckten Parkplätze, direkt vorm Eingang. Mir fiel ein, dass Peter allerdings wissen sollte, dass ich heute allein unterwegs war, damit er ohne mich auf Beutezug gehen konnte. Also tippte ich schnell eine kurze Nachricht in mein Handy und stieg aus dem Wagen, sobald ich sie abgeschickt hatte.
    Die Autotür war kaum zugefallen, da bemerkte ich im Augenwinkel, dass die Haustür bereits geöffnet wurde. Ein weißhaariger, älterer Mann stand im Türrahmen und begrüßte mich freundlich, noch ehe ich die ersten Stufen der Treppe betreten hatte.
    „ Guten Abend, Mr. De Winter. Bitte folgen sie mir, Miss Ashton wird sie in Kürze empfangen.“
    Er trat beiseite und wartete, bis ich im Haus war.
    „ Danke, sehr freundlich.“
    Durch dieses ganze vornehme Getue kam ich mir vor, als hätte man mich geradewegs ins neunzehnte Jahrhundert zurück versetzt. Der Butler – ich nahm an, dass er diese Stellung hatte, zumindest passte der schwarze Anzug perfekt ins Klischee – führte mich durch eine große Halle. Der Geruch von Möbelpolitur und frisch gestärkter Wäsche hing in der Luft. Polierte helle Marmorplatten auf dem Boden und exquisite Gemälde an den Wänden, so hatte ich es mir hier drinnen irgendwie vorgestellt.
    Der Mann öffnete eine dunkle, massive Holztür und bedeutete mir einzutreten.
    „ Wenn sie hier warten wollen, Sir. Miss Ashton wird, wie gesagt, bald bei ihnen sein.“
    Ich nickte als ich an ihm vorbei ging.
    „ Gern, vielen Dank.“
    „ Möchten sie ablegen, Sir?“
    Er deutete auf meinen Mantel.
    Ich schüttelte den Kopf.
    „ Nicht nötig, danke.“
    „ Darf ich ihnen etwas zu Trinken bringen?“
    Seine Halsschlagader war unter einer dicken Falte fast verschwunden. Nicht sehr einladend.
    „ Nein, danke.“
    „ Sehr wohl.“
    Er machte etwas, das beinahe aussah wie eine Verbeugung. Dann schloss er auch schon wieder die Tür hinter sich.
    Mindestens neunzehntes Jahrhundert, überlegte ich kurzerhand. Ich ging quer durch den Raum bis zu den hohen Fenstern hinüber und schaute hinaus. Das Zimmer war nach Norden ausgelegt und offenbarte einen wundervollen Blick hinaus auf die endlosen Weiden. Ich spähte in die scheinbare Dunkelheit. Für mich war es kein Problem, meine Pupillen gewöhnten sich schnell an Lichtveränderungen. Ich konnte sogar bis zu den benachbarten Stallungen sehen. Das gesamte Anwesen erinnerte mich zusehends an mein altes Heim. Obwohl ich mir nicht mehr alles ins Gedächtnis rufen konnte, lag trotzdem eine gewisse Vertrautheit in der Luft. Ein wenig wehmütig drehte ich mich um und betrachtete den großen Raum im Ganzen. Es war eine Art Gesellschaftszimmer. Mehrere bequem aussehende Sessel und ein großes Sofa waren das Herzstück dieses Zimmers. Beistelltische und Regale, vorwiegend mit allerlei alten Büchern bestückt, füllten den restlichen Platz aus. Es wirkte gemütlich, obwohl alles blitzblank aufgeräumt war. Ich schlenderte zu einem kleinen Glaswagen, der über und über mit alkoholischen Kostbarkeiten ausgestattet war. Meine Finger strichen über eine kristallene Karaffe, in der Cognac abgefüllt war. Der feine Duft stieg mir unwillkürlich in die Nase, doch ich konnte mich nicht mehr an seinen Geschmack erinnern. Das passierte mir leider häufiger. Ich behielt zwar den Geruch im Gedächtnis, aber ob Dinge süß oder bitter schmeckten, konnte ich einfach nicht mehr sagen. Vincent hatte mir mal gesagt, dass viele Erinnerungen aus dem sterblichen Leben verblassten. Vielleicht einer der wenigen Nachteile, wenn man unsterblich geworden war. Es sollte mich nicht weiter kümmern, denn ich würde sowieso nie wieder von der teuren Flüssigkeit kosten können.
    Leichte Schritte rissen mich aus meinen Gedanken. Lesley tapste leichtfüßig die Treppenstufen hinunter. Erwartungsvoll drehte ich mich um und wartete, bis sich die Tür wieder öffnete.
    „ Hallo…“, begrüßte

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