Acacia 02 - Die fernen Lande
Der Blick seiner blutunterlaufenen Augen richtete sich auf Mena; er musterte sie, als wollte er sich vergewissern, dass er tatsächlich die Ähnlichkeit sah, die er gerade angesprochen hatte. »Als ich deinem Bruder zum ersten Mal begegnet bin, war ich nicht so respektvoll, wie ich es hätte sein müssen. In meinen Augen war er ein Welpe, ein Prinz ohne Volk, das er führen konnte. Und was ist das anderes als eine Täuschung? Ich habe ihn für schwach gehalten. Und als er gefallen ist, habe ich ihn für bedauernswert gehalten. Für glücklos. Ich habe gedacht, er hätte versagt, und er hat mir leidgetan.«
Obwohl die Schutzhütte der Ratsversammlung nach allen Seiten hin offen war, war es drinnen und draußen sehr still geworden. Ein paar Grillen unterhielten sich über größere Entfernungen hinweg, größtenteils jedoch schien es, als wäre die Nacht verstummt, um dem Häuptling zu lauschen.
»Ich weiß jetzt, dass ich mich in jeder Hinsicht geirrt habe«, fuhr Oubadal fort. »Er hat dieses Leben im Wirbel eines edlen Kampfes verlassen. Er hat es als Mann in der Blüte seiner Jahre verlassen, schlank und stark, ein Löwe, dessen Kiefer nur noch stärker geworden wären. Er hat dieses Leben verlassen, während der Kampf noch in seiner Brust lebte. Das sagen viele. So wird man sich an ihn erinnern – als Löwen. Hörst du mir zu? Die Zungen werden seines Namens niemals müde werden. Jetzt beneide ich ihn, Prinzessin Mena. Helden sterben immer jung. Das hätte ich viel früher erkennen müssen.«
Mena, die den alten Mann nun besser verstand, erhob sich und trat näher an ihn heran. Sie legte eine Hand auf die seine. »Helden sterben immer, ja, aber sie müssen nicht jung sein. Das glaube ich nicht. Oubadal, du bist ein König in deinem Volk. Und als ein solcher König wird man deiner für immer gedenken. Wenn ich von hier fortgehe, werde ich die Welt daran erinnern, wie du dein Volk durch stürmische Zeiten geführt hast. Ich werde ihnen erzählen, dass dein Volk alles vorbereitet hatte, um dieses Ungeheuer zu besiegen. Ihr habt es bereits getötet. Wir haben das Glück, dass wir euch helfen können, das zu vollenden, was ihr bereits so gut wie getan habt. In ein paar Tagen werden wir es aus dem Wasser ziehen und ihm ein Ende machen. Dann werden die Fische wiederkommen. Der Wohlstand wird zu deinem Volk zurückkehren.«
Oubadal zog seine Hand unter ihrer heraus und tätschelte sie mit den Fingerspitzen. Er lächelte traurig. »Liebes Mädchen, du verstehst nicht. Ja, die Fische werden zurückkommen. Halaly wird zurückkommen. Mein Volk wird vielleicht von Neuem erblühen und gedeihen. Aber ich – ich werde das alles nicht erleben. Im Gegensatz zu deinem Bruder hatte ich viele, viele Tage Zeit, um das zu verstehen. Ich hatte zu viele Tage. Es ist nicht leicht.« Er hielt inne. Die Gefühle schienen ihm die Kehle zuzuschnüren, doch er ging rasch über den Augenblick hinweg. Er hustete und sagte dann: »Bitte, Prinzessin, geh mit meinen Männern und sieh dir unsere neue Flotte an. Sie ist alles, was uns geblieben ist, um die Bestie zu bekämpfen.«
Mena tat, was er verlangte. Ein Teil von ihr wollte bei dem alten Häuptling bleiben, wollte die anderen gehen lassen, damit sie einige Zeit mit ihm allein dasitzen konnte. Hier war ein Mann, der ihren Bruder gekannt und sich zusammen mit ihrem Vater mit den Waffen geübt hatte, als er ein junger Mann gewesen war. Sie wollte ihn trösten, wie eine erwachsene Tochter vielleicht einen gebrechlichen Vater trösten würde. Und vielleicht wollte sie sich auch von ihm trösten lassen. Bestimmt würden Geschichten aus der Vergangenheit ihr helfen, einen Sinn in der Gegenwart zu finden. War das nicht genau so, wie es sein sollte? Konnte sie nicht mit ihm sprechen, seine Schwermut durchdringen und in seiner langen Lebensspanne eine größere Bedeutung finden, die für sie beide ein heilender Balsam sein würde? Sie glaubte es, aber jetzt war dafür nicht der rechte Augenblick. Und so nahm sie fürs Erste Abschied von ihm und folgte den jungen Männern nach draußen, um die neue Flotte zu besichtigen.
Es war eine traurige Besichtigung. Die Halaly gaben sich alle Mühe, ihre Entschlossenheit zu zeigen, aber der Tribut, den die Monate des Leidens und der Nahrungsknappheit gefordert hatten, war in jeder Gesprächspause spürbar, stand in den verhärmten Gesichtszügen der Frauen geschrieben und zeigte sich in dem Hunger in den ovalen Kinderaugen. Die Segelgleiter waren
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