Achsenbruch
eine peinliche Stille. Jedem war klar, welche Rolle Bleifinger in der Stadt spielte. Und die Ersten grübelten bereits, wie ein Danach aussehen könnte.
»Wo ist denn der Genosse Potthoff eigentlich?«, fragte der Alt-OB Trübes plötzlich. »Mal wieder verspätet?«
»Glaube ich nicht«, verkündete Flessek und Uebermuth meinte, einen schadenfrohen Unterton herauszuhören. »Der hat Irmhild heute Nachmittag sein Rücktrittsgesuch überreicht.«
»Wie bitte?«
»Er hat heute Morgen eine schlechte ärztliche Diagnose bekommen und braucht jetzt alle Kraft, um seine Gesundheit wiederherzustellen. Deshalb kann er das Amt als Stadtbaurat nicht mehr ausführen. Sagt er.«
»Und?«
»Na ja«, Flessek grinste jetzt offen, »das Löckchen hatte ihn schon lange auf dem Kieker. Und dass er ihr seinen Kopf nun höchstselbst auf einem Silbertablett überbracht hat …«
»… stellt ein biologisches Wunder dar«, ergänzte Lina Tenberge mit einem leisen Lächeln.
Misstrauisch blickte Flessek zu ihr hinüber und vergaß sogar nachzuschauen, wie weit sie ihre Bluse an diesem Montag aufgeknöpft hatte.
»Carlo«, fragte der Sprecher der Stadtbankfraktion, »du weißt doch sonst immer alles! Was ist los?«
Der Stadtarchivar holte erst einmal tief Luft. Dann log er: »Mich hat seine Krankheit auch überrascht. Er wirkte ja immer sehr, ähm, vital.«
In der Runde kam leises Gelächter auf. Potthoffs Privatleben war ein offenes Geheimnis.
»Jetzt sag schon«, beharrte Otto Trübes. Sein längliches, abgemagertes Gesicht wirkte noch grauer als sonst. Offenbar litt er darunter, dass er in diesem Fall nicht mit dem üblichen Informationsvorsprung auftrumpfen konnte. »Was ist es? Krebs?«
Uebermuth wehrte mit einer sanften Kopfbewegung ab: »Selbst wenn ich es wüsste – Hartmut hat nichts Genaueres gesagt. Und das sollten wir alle doch respektieren.«
Die Tür öffnete sich. Erschrocken schauten alle auf, aber es war der Wirt. Mit einem geschäftsmäßigen Lächeln trug er ein Tablett mit Getränken herein und verteilte sie. Kaum hatte er das letzte Glas abgesetzt, folgte ihm eine junge Kellnerin. Sie schob einen Servierwagen vor sich her und verteilte die Teller. Ein Geruch von Sauerkraut erfüllte den Raum und Lina Tenberge rümpfte leicht die Nase, während Flessek der jungen Frau begeistert auf das T-Shirt schaute.
Warte es ab, du geiler Sack, dachte Lina und lauerte weiter auf ihre Chance.
Als Wirt und Kellnerin wieder verschwunden waren, dominierte zunächst das Klappern der Bestecke den Raum. Klotzeck und ein Stadtbankmensch unterhielten sich leise über den neuen Kader des VfL. Diese holländische Torwartlegende war endgültig in Rente gegangen und von den potenziellen Nachfolgern hatte sich einer bereits am Sonntag mit etlichen Patzern blamiert – ausgerechnet gegen Wattenscheid.
»Wie ist das eigentlich«, setzte einer der sonst eher stillen Leute aus der Runde das Gespräch wieder in Gang, »bekommt Potthoff Überbrückungsgeld? Und was ist mit seinen Pensionsansprüchen? Hat er überhaupt schon welche?«
Flessek zog die Schultern hoch: »Bin ich Jesus? Hatte noch keine Zeit, die Stadtsatzung und seinen Arbeitsvertrag zu vergleichen.«
»Aber etwas anderes müssen wir hier klären«, sagte Uebermuth. »Wen wollen wir als Nachfolger haben?«
»Na ja«, sagte Klotzeck, »die Stelle wird ja wie üblich öffentlich ausgeschrieben.«
Lautes Gelächter – dass dies nur eine Farce war, wussten alle.
»Ich finde, das sollte jemand machen, den wir kennen und der sich bewährt hat.«
Beifälliges Nicken, aber kein Vorschlag. Da lehnte sich Flessek in seinem Sessel zurück, schaute sich um und sagte dann: »Nun, wenn keiner will – ich könnte mir durchaus vorstellen, den Posten als Fraktionsvorsitzender aufzugeben.«
Das folgende Schweigen belegte zweierlei: erstens, dass niemand ihn wollte, und zweitens, dass keiner sich traute, das auch laut zu sagen.
Lina Tenberge räusperte sich. Dann griff sie zu ihrer Aktentasche und zog ein Notebook heraus: »Wartet mal, ich habe hier etwas auf der Festplatte, das uns weiterhelfen könnte.«
Trübes und Flessek wechselten einen irritierten Blick, Uebermuth schaute geduldig an die Decke des Raums, die dringend einen neuen Anstrich vertragen konnte, der Rest sah gebannt zu Tenberge hinüber.
Als es so weit war, klickte Lina Tenberge eine avi-Datei an, vergrößerte das Bild auf Monitorformat, stellte den Ton auf die höchste Stufe und postierte den Rechner so ans
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