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Achsenbruch

Achsenbruch

Titel: Achsenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Junge
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hat.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du fromm bist«, murmelte jemand. Ein leichtes Glucksen in der Runde zeigte, dass sich die aggressive Stimmung entspannte.
    »Ach, komm, spar dir die Witze. Lasst uns lieber überlegen, wie Bochum aus dieser Scheiße rauskommt.«
    »Das können wir doch erst, wenn wir wissen, wer es war«, wandte Lina Tenberge ein.
    »Stimmt«, sagte eine tiefe Stimme. Sie gehörte Otto Trübes, dem Ältesten der Runde und Vorgänger auf Sonnenscheins Sessel. »Außerdem ist noch gar nicht klar, ob der Anschlag gegen Irmhild oder Lukas gerichtet war – kann ja sein, dass die Bombe vor dem falschen Haus explodiert ist!«
    »Bitte?«, fragte einer der Herren von der Stadtbank.
    »Ja. Woran die meisten hier gar nicht denken: Der Charlottenweg ist zweigeteilt. Irmhilds Haus liegt am Ende des alten Teils. Dahinter dann Felder. Altes Bauernland. In den Siebzigern hat man begonnen, von der Baumhofstraße aus einen neuen Abschnitt zu bauen, der auf das alte Straßenstück zuwachsen und mit ihm verbunden werden sollte.«
    »Ach du Scheiße«, entfuhr es Potthoff.
    Otto Trübes lächelte: »Hartmut hat’s kapiert. Das Verbindungsstück zwischen den beiden Enden der Straße konnte nie gebaut werden, weil der dickköpfige Bauer nicht verkaufen wollte. Und dann hat jemand es gewagt, quer hinter das Ende des neuen Teils und ganz ohne Genehmigung ein wunderschönes …«
    »Von wegen – ohne Genehmigung!«, protestierte Potthoff. »Ich habe eine.«
    »Ja, ich weiß.« Trübes winkte ab. »Die hast du dir dann rückwirkend erteilt, als du Baurat wurdest.«
    Mit einem Mal war es peinlich still im Raum. Jeder starrte vor sich.
    Meine Güte, dachte Tenberge, so haben auch alle auf der goldenen Hochzeit von Oma und Opa geschwiegen – als jemand die vier unehelichen Kinder erwähnte, die der treue Gatte in diesen fünfzig Jahren nebenbei gezeugt hatte.
    »Eigentlich«, sagte Trübes in diese Stille hinein, »hättest du den Knall heute Morgen doch hören müssen, Hartmut!«
    Potthoff seufzte: »Ich musste früh weg. Ich habe es auch erst im Rathaus erfahren.«
    Trübes lächelte verhalten und kraulte genüsslich seinen grauen Kinnbart. Aber die anderen kamen von selbst drauf und Flessek meldete sich als Erster: »Meinst du, Otto, es ging gar nicht um Irmhild? Sondern dass jemand den Hartmut wegpusten wollte?«
    »Das weiß zurzeit nur der liebe Gott«, behauptete der Alt-OB. »Aber es gibt bestimmt ein Dutzend Leute mit einem brauchbaren Motiv!«
    »Wenn’s danach ginge«, schoss Potthoff zurück, »müsstest du schon zwanzig Jahre tot sein!«
    Die nächste Runde ging an ihn.
    14
    Gegen halb zehn am Abend saßen Hardenberg und Klemm noch immer im Haus der Nationen an der Ruhr-Uni fest und hofften auf Ablösung. Seit sie im zweiten Stock vor dem Notquartier der Oberbürgermeisterin Platz genommen hatten, waren mehr als zehn Stunden vergangen. Sonnenschein selbst hatten sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Statt ihrer war nur zwei Mal ihre Lieblingsärztin aufgetaucht. Neben der unvermeidlichen Instrumententasche hatte sie beim ersten Mal eine Pizzaschachtel mitgebracht und beim zweiten eine Papiertüte mit dem Werbeaufdruck von Bochums bekanntester Bäckerei. Und beim Weggehen hatte die Medizinerin den Polizisten eingeschärft, niemanden in das Dreizimmerappartement zu lassen: »Ganz egal, wer kommt!«
    Aber nichts passierte. Die anderen Appartements auf diesem Flur waren während der Semesterferien unbewohnt und verschlossen.
    Nicht einmal die Presseleute hatten bislang herausgefunden, wo sich die OB aufhielt. Und der Hausmeister, ein treuer Sonnenschein-Wähler, hatte geschworen, sie unter keinen Umständen zu verraten.
    Langeweile machte sich breit und daran konnte auch der Ausblick nichts ändern. Ein etwa zehn Meter langer Korridor mit hellgrauen Wänden, von dem auf jeder Seite zwei blaue Türen abgingen. Am einen Ende gab es eine Glastür, die zur Feuertreppe führte und ansonsten nur einen Blick auf die Betonkolosse des Uni-Centers bot. Am anderen Ende sahen die Polizisten auf eine gläserne Schwingtür, durch die man den Aufzug und das Treppenhaus erreichte. Weder die Leuchtröhren an der Decke noch der blaugraue Teppichboden zeugten von gestalterischer Phantasie. Einen gewissen historischen Wert besaßen lediglich die sechs gerahmten Radierungen, die zwischen den Türen hingen: Ein Bochumer Kunstlehrer hatte darauf die Silhouetten von Zechen und Werkshallen verewigt, bevor diese im Zuge der

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