Achsenbruch
Die schönsten Bahnstrecken der Welt zurückgriff und eine Führerstandsmitfahrt durch Südindien anbot. Die Kameraperspektive eines Lokführers erinnerte Klaus-Ulrich Mager regelmäßig an einen seiner schönsten Kindheitsträume.
»Weil dein Sohn heute Nacht sein Bett vollgekotzt hat. Und wer hat wieder nichts gehört?«
»Ich?«, vermutete Mager.
»Genau. Und wer hat wieder alles sauber gemacht?«
»Du«, sagte er. »Ich weiß, dass du eine gute Mutter bist.«
Die Rote ließ das Messer fallen, mit dem sie Theo gerade eine Schnitte Brot bestrich. »Arsch! Kannst du dir vorstellen, dass ich es langsam satthabe, hier Aschenputtel zu spielen?«
Mager atmete durch und richtete den Blick zum Himmel: »Das Thema hatten wir doch schon – oder? Du arbeitest halbtags drüben im Büro. Bis du Theo um fünf aus der Kita holst, sitzt neben der Hausarbeit immer noch so’n Stündchen Mittagsschlaf drin. Ich aber …«
»Ich weiß, was jetzt kommt!«, fauchte sie. »Ich mache zu Hause Urlaub, während du dir den ganzen Tag für die Firma den fetten Arsch aufreißt!«
»Karin, leise – wenn Theo dich hört!«
»Theo sitzt oben auf dem Klo und hört gar nichts. Auf jeden Fall geht das nicht so weiter!«
Demonstrativ kramte Mager seine Zigaretten aus der Hosentasche: Es war Sommer, die Sonne schien und er freute sich darauf, Kaffee und Morgenjoint vor der Tür auf dem Hof zu genießen.
»Qualmen geht jetzt nicht«, protestierte seine Frau. »Ich muss sofort zu Susanne. Kündigen. Und dann besorge ich mir einen Vollzeitjob. Bei einer richtigen Firma. Und wir teilen die Arbeit in unserer privaten Firma namens Familie ganz neu auf.«
Geht das schon wieder los, dachte er, bemühte sich aber, nicht erneut göttlichen Beistand zu suchen. Fakten waren überzeugender.
»Schöner Vorsatz. Als ich fünfzehn war, hättest du sofort einen Job bekommen. Aber jetzt bin ich vierundfünfzig und wir haben vier Millionen offizielle Arbeitslose – von den zwei Millionen einmal ganz zu schweigen, die sie mit mathematischem Hokuspokus aus der Statistik entfernt haben. Meinst du, irgendjemand da draußen wartet auf dich und gibt dir einen Job? Einer Ungelernten?«
»Ungelernt? Seit zwanzig Jahren mache ich für PEGASUS die Drecksarbeit!«
»Stimmt. Aber die Einzige von uns, die ihren Job gelernt hat, ist Susanne. Wir anderen sind Studienabbrecher. Genauer gesagt: Hilfskeulen, die in freier Wildbahn keine Chance haben. Überschlaf deinen Plan lieber noch mal! Und jetzt muss ich rüber.«
Sie hielt ihn am Arm fest: »So kannst du mich nicht stehen lassen.«
»Doch«, blaffte er und riss sich los.
»Wenn du jetzt gehst, sind wir geschiedene Leute!«
»Auch das solltest du dir noch mal überlegen«, empfahl Mager und schmiss, die Verzweiflung in ihren Augen ignorierend, die Tür hinter sich zu.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Susanne, als er grußlos ins Büro stapfte und sich Kaffee eingoss.
»So wie immer!«, raunzte er und rückte seinen Stuhl zurecht. »Sag mir lieber, was die Zeitungen über das Attentat schreiben.«
Susanne musterte ihn, seufzte bekümmert und zog die Schultern hoch: »Kaum einer glaubt, dass Beißner gemeint war.«
»Wieso?«
»Beißner ist für sie der harmlose Romantiker, der aus Liebe zu Sonnenschein auf eine Karriere als Wahlbeamter verzichtet hat. Ansonsten: Alle sind von der Islamisten-Legende begeistert, die Frau Dorn verzapft hat.«
»Na klasse!«, sagte Mager. »Wenn man den Leuten richtig Angst vor Terroristen macht, bekommt man die Vorratsdatenspeicherung leichter durch.«
Kalle, der gerade die Kaffeemaschine füllte, nickte, aber Susanne verzog das Gesicht. Mager machte es sich für ihren Geschmack zu einfach: »Immerhin gibt die Rundschau zu bedenken, dass Sonnenschein auch bei den Faschos nicht geliebt wird. Die Nachrichten erwähnen in einem Nebensatz, dass die OB den Mittelstand vergrault. Und BLUT deutet an, dass sie bei der alten Parteigarde in Bochum verschissen hat.«
Mager nickte: »Das Übliche. So hat jeder seine Stammleser bedient.«
Die einst sozialdemokratische Rundschau war zwar längst von dem größten Medienkonzern des Ruhrgebietes geschluckt worden, aber respektierte hin und wieder die heiligsten Gefühle jener Leser, die man durch feindliche Übernahme geerbt hatte. Die Nachrichten hingegen gehörten einer konservativen Dortmunder Druckerfamilie und deckten auch schon mal in den rot regierten Städten einen Skandal auf, den die größte Zeitung gerne noch ein
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