Achtung BABY!
»Ich kann sie auch heim tragen, und du kommst dann morgen mit dem Auto nach.«
Mein Gott, ich war etwas übervorsichtig. Aber das ist ganz natürlich. Das Baby ist da, und sofort hat man Angst, dass etwas passieren könnte. Das ist eine ganz normale Paranoia, die frische Mütter und Väter überfällt. Dagegen kannst du nichts machen. Du trägst und hältst das kleine Baby in den ersten Tagen wie ein rohes Ei, das statt einer Kalkhülle einen Pergamentüberzug hat. Bei jedem Geräusch des Babys zuckst du zusammen und schaltest auf Alarmstufe rot. Wenn wir unsere Nachsorge-Hebamme Annette nicht gehabt hätten, hätte ich mir wohl eine Saisonkarte für den medizinischen Notfalldienst besorgt. Es ist gut, wenn einem jemand die kleinen Dinge des neuen Lebens erklärt. Dieverdächtigen Geräusche und äußeren Anzeichen für potenzielle schwere Epidemien haben meist banale Hintergründe. Unsere kleine Lilly lag da vor uns, ein kleines Bündel Leben, und da plötzlich: »Wuääääääääääääääääääääääääääää!«
»Sie schreit!«
»Ja, das hat sie vorher auch schon.«
»Aber dieses Schreien ist anders.«
»Du hast recht.«
»Wuääääääääääääääääääääääääääää!«
»O mein Gott, sie will uns mit dieser Klang-Nuance der ausgestoßenen Dezibel etwas sagen.«
»Da stimmt was nicht.«
»Und schau, ihre Lippe zittert.«
»Wuääääääääääääääääääääääääääää!«
»Das kenn ich nur von Leuten, denen es ganz schlecht geht.«
»Oder sie erfriert gerade.«
Das war gar nicht mal so unrealistisch. Kleine Babys haben noch keinen eigenen Schutz gegen Kälte. Warum auch immer. Es ist halt so.
»Gut, dass wir noch die Wärmelampe aufgebaut haben.«
»Aber ihre Lippe zittert trotzdem.«
»Vielleicht hängt sie doch zu hoch?«
Lilly konnte schreien und zeitgleich die Lippen so vibrieren lassen – wie Leute, die vom Eiswasserschwimmen kommen und deren Klamotten geklaut wurden. Aber das hatte nichts mit Frieren zu tun, das ist mehr so ein eingebauter Babyeffekt: das Schreien nicht nur hören, sondern auch sehen . Wir nannten es die Drama-Zitter-Lippen. Also nichts Schlimmes. Aber da …
»Sie rührt sich nicht mehr.«
»Stimmt.«
»Meinst du, sie ist tot, ohnmächtig oder eine unbekannte Macht hat ihre Bewegungen gelähmt?«
»Oder sie schläft?«
»Aber sie liegt so komisch da.«
»Du hast recht.«
»Stups mal an.«
»Waaaaooooooooo!«
»O mein Gott, sie will uns was sagen.«
Und das ist ein ewiger Kreislauf. Die ersten Tage zu Hause ohne fremde Menschen um uns herum waren trotz aller Schwierigkeiten toll. Man ist wie eine geschlossene Einheit, die nichts zu Fall bringen kann. Three hearts beat as one! Wenn Liebe und Zuneigung eine wiederverwertbare Energieform wären, dann hätten wir in diesen Tagen ganz München mit Strom versorgen können. Ich bin mir sicher, dass unsere Kleine das auch energetisch mitbekommen hat. Ich kann es nicht beweisen, aber man muss nicht alles messen, um zu wissen, dass es so ist. Wir saßen stundenlang vor unserer Kleinen und starrten sie an, stundenlang, tagelang. Alleine das Fingerspiel von kleinen Babys sieht so aus wie die Fingerbewegungen von thailändischen Tempeltänzerinnen. Mittlerweile habe ich ja die Theorie, dass Babys mit ihren eigenartigen Fingerbewegungen versuchen, die Eltern zu hypnotisieren.
»Glaub mir, hör auf mich!«
»Guck, jetzt bewegt sie auch den Daumen.«
Es gab in diesen ersten Tagen zu Hause keine Zeitrechnung mehr, nur noch uns drei. Das ist ein wunderschönes Gefühl, wenn man mal nur noch ist . Kein morgen, kein Termin, einfach sein .
Schon auf der Rückfahrt von der Klinik haben wir meine Eltern angerufen und gefragt, ob sie nicht sofort kommen wollen und die Kleine angucken. War ein guter Gedanke. An diesem Tag ist man eh noch verstrahlt, und man weiß ja nicht, was die nächste Zeit so bringt. Vielleicht ist man ja danach überfordert, überhaupt Leute zu empfangen. Und es war für mich wichtig, dass meine Eltern die Kleine sehen. Wir hatten alle lange auf sie gewartet, und nun schloss sich ein Kreis. Es war ein schräger und toller Moment, als ich meine Eltern mit den Worten »hallo Oma, hallo Opa« begrüßt habe. Ich dachte mir, ich bin jetzt nicht mehr nur euer Kind, sondern der Papa von eurem Enkel. Jetzt bin ich Papa,ich kann es bis heute manchmal kaum fassen, es gibt nichts, was mit dem Gefühl vergleichbar ist, und ich bin dankbar, dass ich es erleben darf. Ich weiß gar
Weitere Kostenlose Bücher