Acornas Heimkehr
technologisch hoch entwickeltes Volk waren.
Die in einem eigenen Fremdenviertel der Stadt untergebrachten Linyaari brauchten sich den Gebräuchen der Niriianer zwar eigentlich nicht zu unterwerfen, taten es Neevas Erfahrung nach aber meist trotzdem. Obschon es somit durchaus nicht ungewöhnlich war, wenn auch hier im Linyaari-Viertel weitgehend Nachtruhe herrschte, ging es dennoch nicht mit rechten Dingen zu, dass sie nirgends das geringste Lebenszeichen ausmachen und in der dünnen Schneeschicht, die auf allen Wegen und Häusern lag, nicht die kleinste Fußspur entdecken konnte, als sie eine Straße entlangging, die zwischen zwei der vier großen Gebäude hindurchführte, welche einander rund um einen großen Platz gegenüberstanden. Im Mittelpunkt dieses Platzes befand sich eine Grünanlage, in der tagsüber Sportveranstaltungen, Lesungen, Vorführungen und Versammlungen stattfanden. Die Häuser ringsum schienen, zumindest von außen betrachtet, völlig verlassen zu sein. Sie trat auf die Eingangstür des Gebäudes zu ihrer Linken zu. Der Zugang war unverschlossen, und die Irisblendentür öffnete sich bereitwillig, als Neeva sie berührte. Das war nicht sonderlich überraschend. Die Einwohner von Nirii pflegten ihre Türen eigentlich nie abzuschließen.
Das Gebäude wirkte steril, bar jeden Lebens oder auch nur irgendeines Anzeichens dafür. Die Türen, die von den Fluren in die einzelnen Innenräume führten, waren alle entfernt worden, und die Öffnungen klafften ihr wie tote Höhleneingänge entgegen, als sie an ihnen vorüberging und in leere Zimmerfluchten blickte, die keinerlei Möbel, persönliche Gegenstände oder Geräte irgendeiner Art enthielten. Jedes Linyaari-Gebäude enthielt acht Wohneinheiten, und diese waren alle samt und sonders leer, in jedem der Gebäude.
Neeva vermochte nirgends auch nur das Flüstern eines Gedankens wahrzunehmen, nicht den Funken irgendeiner Gefühlsregung.
Sie kehrte wieder ins Freie zurück und bekam eine Gänsehaut angesichts der unnatürlichen Stille und Leere dieser Orte, wo vor kurzem noch einige der Besten und Klügsten ihres Volkes gelebt hatten, ihren Studien nachgegangen waren, die Niriianer an ihrem Wissen hatten teilhaben lassen und Handel mit ihnen getrieben hatten.
Als sie schließlich ratlos das Gelände der zentralen Grünanlage betrat, wühlten ihre Füße die Schneeschicht auf, die auch dort den Erdboden bedeckte. Sie stellte fest, dass die mit einheimischen Gräsern bepflanzten Flächen, die ihre Artgenossen dort angelegt hatten, verwildert und abgestorben waren. Auch im Innern der Wohneinheiten, in denen die Linyaari für gewöhnlich üppig sprießende Zimmergärten hegten, war kein Hälmchen Nahrung mehr zurückgeblieben.
Man hätte dort sogar nicht einmal mehr sagen können, welcher Raum einst welchem Zweck gedient hatte, so gründlich leer gefegt waren die einstigen Unterkünfte gewesen.
Unter ihren Füßen jedoch begann das Erdreich, so schneebedeckt es auch sein mochte, ihr endlich eine Geschichte zu erzählen. Es sprach zu ihr von Wut und Furcht, Verwirrung, unterbrochenem Schlaf, gestörtem Liebesspiel, der Sehnsucht nach geliebten Personen, die nicht da waren, dem Weinen verängstigter Kinder und sogar von einem gewissen Maß – wenn auch nicht viel, so doch genug, um jeden Widerspenstigen einzuschüchtern – an wahrhaftigem, körperlichem Schmerz.
Sie war so sehr damit beschäftigt, diese Eindrücke in sich aufzunehmen, dass sie die vom Schnee gedämpften Schritte des Trupps, die sich ihr von hinten näherten, erst wahrnahm, als es schon zu spät war, um zu ihrer Fähre zurücklaufen zu können.
Angeführt wurde die Schar von der hoch gewachsenen, doppelgehörnten und kräftig gebauten Gestalt ihres alten Freundes und maßgeblichsten Verhandlungspartners auf dieser Welt, Runae Thirgaare, der von ein paar anderen Niriianern begleitet wurde, die ihr jedoch alle unbekannt waren. Und hinter ihnen standen vier weitere uniformierte Personen, die große Ähnlichkeit mit jenen Wesen aufwiesen, die einst Khornya Obhut gewährt hatten.
»Visedhaanye ferilii Neeva«, sprach sie der Runae mit sehr viel weniger Wärme in der Stimme an, als er sonst in seine Begrüßung zu legen pflegte. »Ich fürchte, dass wir Sie und Ihresgleichen nicht mehr länger hier bei uns willkommen heißen können.«
»Warum nicht?«, wollte Neeva wissen. »Wo sind all die anderen?«
Einer der uniformierten Fremden trat aus dem Hintergrund nach vorne und stellte sich
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