Acqua Mortale
stand, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Man holt ihn nach Ferrara, um den Tod eines Gymnasiasten aufzuklären. Er lernt einen Wasserbauingenieur kennen, der äußerst hilfsbereit und gut gelaunt wirkt, allerdings versucht, Lunau umzubringen und kurz darauf selbst stirbt. Wo sollte der Zusammenhang zwischen all diesen Ereignissen liegen? Er war nicht erkennbar. Hatte Lunau sich tatsächlich die Attacke auf dem Deich eingebildet? Aber wo kamen dann seine Verletzungen und der Achter am Fahrrad her? War er einfach aus Unachtsamkeit über die Deichkante geraten und hatte, wie in einer Traumsequenz, die in Sekundenbruchteilen eine ganze Legende für eine konkrete Sinneswahrnehmung liefert, die Kollision halluziniert? Oder war das alles eine Verkettung von Zufällen? Unwahrscheinlich.
26
Silvia Di Natales fahles Gesicht hatte den typischen Grünstich von Menschen, die unter Schock stehen und deren Kreislauf die Durchblutung der Körperperipherie eingestellt hat. Geistesabwesend hatte sie die Tür geöffnet und war in die Wohnküche gegangen.
Lunau setzte sich zu ihr an den Tisch und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er.
Es klang genauso idiotisch wie damals bei Kurts Witwe. »Raus. Und wehe, ich sehe dich auf der Beerdigung … Wehe, ich sehe auch nur ein Bild aus Kurts Kamera in deinen Filmen«, hatte diese damals erwidert.
Silvia schüttelte nur den Kopf und fixierte einen Hängeschrank. Dann wischte sie sich die Tränen aus den geschwollenen Augen.
»Wo sind die Kinder?«
»Spielen im Garten.«
»Falls ich irgendetwas für Sie tun kann, egal was … Ich werde vorerst in Ferrara bleiben.«
Sie schaute auf. »Wieso?«
»Die Polizei will es. Und ich will es auch.«
»Wieso die Polizei?«
»Ich war einer der letzten, der Ihren Mann gesehen hat.«
Sie nickte und fingerte in ihrem Ärmel nach einem Papiertaschentuch. Von den Kindern war nichts zu hören.
»Silvia, ich muss wissen, wo Ihr Mann nach dem Abendessen hinwollte.«
Sie zuckte nur mit den Achseln.
Lunau war aufgestanden, um aus dem Fenster zu sehen. Die Stille irritierte ihn. Wenn seine Kinder unbeaufsichtigt im Garten spielten, klang das anders.
»Können Sie sich denn vorstellen, dass Ihr Mann sich umgebracht hat?«
Sie rührte sich nicht, aber die Sehnen an ihrem Hals waren gespannt. Lunau sah seine Mutter vor sich, wie sie geistesabwesend durch das Haus gegangen war. Eine Woche hatte sie nicht geredet, nicht einmal Geige gespielt. Sie war immer nur ans Klavier gegangen und hatte ihre Fingerspitzen auf die Tasten gelegt, ohne sie anzuschlagen. Auf die Tasten, die Lunaus Schwester Vera so oft benutzt hatte. Vera. Vielleicht half es Silvia, wenn sie reden konnte, gerade über Vito.
»Er schien mir einer der wenigen Menschen, die mit sich und der Welt im Reinen sind. Sowohl mit seiner Familie als auch mit den Kollegen.«
Silvia lachte auf.
»Stimmt nicht, was ich sage?«
»In seiner Behörde hat man ihn wie einen Trottel behandelt.«
»Wer?«
»Vito hätte längst Chef sein müssen.«
»Stattdessen ist es Gasparotto geworden. Wahrscheinlich hatte er die besseren Beziehungen.«
Sie presste Luft durch die Zähne, was ein verächtliches Zischen verursachte. Lunau hakte nach: »Stimmt nicht, was ich sage?«
»Er hat der ARNI einen Schwimmbagger gestiftet, und wenige Wochen später saß er auf dem Chefsessel.«
»Er hat sich den Posten gekauft, meinen Sie? Aber deswegen bringt Ihr Mann sich doch nicht um, nicht nach fünf Jahren.«
Sie antwortete nicht.
»Was tun Ihre Kinder im Garten?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Wissen sie Bescheid?«
Sie schüttelte den Kopf. Lunau stand auf und schaute in den dunklen Korridor. Aus der Tür zum Wohnzimmer fiel ein Lichtschein.
»Ich glaube nicht, dass Ihr Mann sich umgebracht hat. Das hätte er Ihnen und den Kindern niemals angetan.«
»Ach ja? Woher nehmen Sie diese Gewissheit?«
Sie war plötzlich so kalt, dass Lunau erstarrte. Er hatte es schon einmal erlebt, dass die Trauer von Hass erstickt wurde. Vielleicht eine gesunde Reaktion, die das Überleben erleichterte.
»Falls Sie Interesse daran haben, den Täter zu finden – ich würde Ihnen helfen«, rief Lunau aus dem Flur. Es kam keine Antwort.
Lunau schaute ins Wohnzimmer. Es schien die Kälte zu reflektieren, die plötzlich in dieser Familie Einzug gehalten hatte. Irgendetwas an der Einrichtung schien verändert, aber Lunau kam nicht darauf.
Durch die große Glastür sah er die Kinder im
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