Acqua Mortale
noch dunkleren Pappelauen.
»Findest du nichts an mir?«
»Ich verstehe nicht, was du an mir findest.«
Sie kniff ihn in die strammen Oberarmmuskeln und sagte: »Das lass mal meine Sorge sein.«
Sie trat auf ihn zu und fuhr mit ihren kalten Fingern unter sein Hemd. Ihre Lippen waren ebenfalls eiskalt, aber warm schoss ihre Zunge hervor und leckte über Lunaus Mund. Er versuchte, die letzten Abwehrreflexe zu aktivieren, er dachte an Jettes Lächeln, an seine Kinder, die sich an ihn klammerten, wenn er von einer Reise zurückkam. Das warme, gelbe Licht, das aus dem Flur ins Treppenhaus fiel, die vielen kleinen Schuhe, die nebeneinander aufgereiht waren. Er spürte Amandas Finger, die sich an seine Taille schmiegten, die Nägel, die unter seinen Hosenbund fuhren und sich langsam Richtung Lenden vortasteten.
Lunau schob sie sanft zurück und bückte sich nach ihrem Kleid.
»Wenn du willst, lade ich dich zum Essen ein.«
Er wollte ihr beim Anziehen helfen, aber sie war wie erstarrt. Ihre Augen waren voller Hass und fixierten den Boden.
»Mein Leben ist sowieso kompliziert genug«, meinte er.
Sie antwortete nicht. Lunau wusste, wie Frauen, die man zurückwies,reagieren konnten. Er wollte ihr über die Wange streichen, aber sie schlug seine Hand weg.
»Fass mich nicht an!«
Er setzte zu einer Bemerkung an, verkniff sie sich aber.
»Du perverses Schwein, du, du …«
Sie trat nach seinem Schienbein und ließ ihre Fäuste wirbeln. Sie war keine trainierte Kämpferin, aber schnell und geschmeidig. Lunau hatte Mühe, den Schlägen auszuweichen, ohne ihr weh zu tun.
»Ich bin für dich doch nur eine Laune«, rief er.
»Du bist ein perverser Spanner.«
»Diese Situation habe nicht ich heraufbeschworen.«
Lunau folgte Amandas Blick und sah seinen aufgeklappten Alukoffer, in dem eine kleine rote LED-Anzeige blinkte.
»Geilt dich das auf ? Holst du dir im Hotel einen runter, wenn du so ein kleines Flittchen wie mich betteln und stöhnen hörst? Gehört das in deine akustische Trophäensammlung ? Wo andere ihre Ficks auf Video gespeichert haben, da hast du deine gesampelten spitzen Schreie?«
»Du verstehst das ganz falsch.«
»Ach ja?«
Sie schlug immer noch auf ihn ein, und er nahm sie in den Arm, drückte sie so fest an sich, dass sie sich nicht mehr wehren konnte.
»Wir gehen irgendwo essen. Dann erkläre ich dir alles.«
42
Die einzige Bedingung, die Lunau gestellt hatte, war: ein stilles Lokal. Aber jetzt war es selbst ihm zu still. Seit sie aus dem Auto gestiegen war, hatte Amanda noch kein Wort geredet. Sie warendie einzigen Gäste in einem großen Saal, an dessen Wänden alte Dreschflegel, Sensen und Getreidesiebe aus Holz hingen. Der Agriturismo Oasi lag an einem Feuchtbiotop. Nieselregen staubte gegen die Fenster, im Dunst erkannte man Ziegen- und Kuhställe, hinter einem Holzgatter begann ein Naturkundepfad, der sich durch Schilf zu den großen Brackwassertümpeln schlängelte.
Amanda stocherte in ihrem Essen herum.
»Ich muss dir etwas erklären«, fing Lunau an.
»Da bin ich aber mal gespannt.«
Er schob nun selbst die mit Kürbis gefüllten Cappellacci auf seinem Teller hin und her. Er wusste, wie idiotisch es klang, wenn er von seinen Halluzinationen erzählte. Aber er überwand sich und tat es. Die erste Halluzination hatte Lunau vor etwa zwei Jahren gehabt. Ebenfalls nachts. Er hatte die Kinder in Stefans Zimmer streiten hören, war hinübergerannt und hatte die Tür aufgerissen, um sie zu trennen. Stefan hatte schlafend in seinem Bett gelegen, war aber durch den Lichtschein aufgewacht und hatte lautstark protestiert, dann war auch Jette erschienen. Damals hatte Lunau die Situation noch abgetan. Ein Albtraum. Und tatsächlich hatte er anfangs gehofft, es seien Traumgesichte. Aber nach einem halben Jahr, nach einem zermürbenden Kampf, bei dem er versuchte, sein Hirn und seine wachsende Panik mit Alkohol zu betäuben, bei dem seine Augen ständig kontrollierten, ob das, was er hörte, den Ereignissen in der Umgebung entsprach, bei dem er immer wieder an die Tür oder ans Fenster gehen musste und angstvoll überprüfte, ob das Müllauto, dessen Hydraulik er hörte, tatsächlich auf der Straße war, ob das Radio, das in der Küche dudelte, tatsächlich angeschaltet war, konnte er die Fakten nicht mehr ignorieren. Er hörte Ereignisse, die es nicht gab. Immer häufiger, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er weihte Jette ein. Er wälzte Fachliteratur und stieß, nach langem Suchen, aufeinen
Weitere Kostenlose Bücher