Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
den Innocent Walk, in der Hoffnung, sie vielleicht noch an der Garage abzufangen, aber dort angekommen, sah sie, daß das Tor geschlossen war. Zu spät, sie hatte Claudia verpaßt, Frances beschloß, gleich vom Wandtelefon im Flur von Nummer 10 aus den nächsten Taxistand anzurufen. So sparte sie sich wenigstens den Weg zurück in ihre Wohnung. Sie rannte eben am Garagentor vorbei, als sie von drinnen das Geräusch eines laufenden Motors hörte. Verdutzt und beunruhigt blieb sie stehen. Claudias Porsche, ihr geliebter 911er, hatte noch nicht mal einen Katalysator. Claudia mußte doch wissen, wie gefährlich es war, in einer geschlossenen Garage den Motor anzulassen? Ein solcher Leichtsinn sah ihr gar nicht ähnlich.
Die Tür von Nummer 10 war abgeschlossen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Claudia kam immer auf diesem Weg in die Garage und schloß, ehe sie ging, wieder hinter sich ab. Merkwürdig war nur, daß im Durchgang noch Licht brannte und daß der Seiteneingang zur Garage einen Spaltbreit offenstand.
Laut Claudias Namen rufend, stürzte sie auf die Tür zu und riß sie auf.
Das Licht brannte, ein grelles, grausames, nacktes Licht. Sie blieb wie angewurzelt stehen, jeder Nerv und jeder Muskel gelähmt von blitzartiger Erkenntnis und blankem Entsetzen. Er kniete neben der Leiche am Boden. Doch jetzt richtete er sich auf, kam ruhig auf sie zu und stellte sich zwischen sie und den rettenden Ausgang. Sie sah ihm in die Augen. Es waren noch immer die gleichen weisen, ein wenig müden Augen, die viel zuviel gesehen hatten, und das seit langer, langer Zeit.
»O nein!« flüsterte sie. »Gabriel, nicht du. O nein.«
Sie schrie nicht. Sie war ebenso unfähig zu schreien wie sich zu bewegen. Als er sprach, vernahm sie die gleiche sanfte Stimme, die ihr seit all den Jahren vertraut war.
»Es tut mir leid, Frances, aber du begreifst doch, daß ich dich jetzt nicht gehen lassen kann, nicht wahr?«
Und dann schwankte sie und spürte nur noch, wie sie hinabsank in eine barmherzige Dunkelheit.
61
Oben im kleinen Archiv sah Daniel auf seine Armbanduhr. Punkt sechs. Er saß jetzt seit zwei Stunden hier. Aber es war keine vertane Zeit gewesen. Etwas hatte er wenigstens gefunden. Die Suche hatte sich also gelohnt. Seine Entdeckung war vielleicht nicht relevant für die Ermittlungen, aber interessant war sie gewiß. Sobald er dem Team das Geständnis zeigte, würde AD möglicherweise seine Ahnung bestätigt finden, wenn auch nicht ganz in dem Sinne, wie er gehofft hatte, und würde die Suche abblasen. Es gab also keinen Grund, warum er jetzt nicht Feierabend machen sollte.
Allein, der unverhoffte Fund hatte sein Interesse wieder angefacht, und außerdem war er mit der Reihe beinahe durch. Da konnte er auch noch die letzten rund dreißig Akten auf dem oberen Bord einsehen. Er zog es vor, eine Aufgabe klar und sauber zu Ende zu führen, und es war schließlich noch früh. Wenn er jetzt aufhörte, würde er sich verpflichtet fühlen, nach Wapping aufs Revier zurückzufahren. Und im Moment stand ihm nicht der Sinn nach Kates verständnisvollem Mitleid. Also schob er die Trittleiter ans untere Ende des Regals und stieg wieder hinauf.
Die Akte, die ziemlich prall und sperrig war, klemmte zwischen zwei anderen Ordnern fest, und als er daran zog, rutschte der ganze Stoß vom Brett. Ein paar einzelne Blätter segelten wie schweres Laub über seinen Kopf. Vorsichtig stieg er von der Leiter und sammelte sie auf. Die übrigen Papiere waren anscheinend nach Datum geordnet und zusammengeheftet. Zwei Dinge machten ihn stutzig. Der Aktendeckel war aus dicker Manilapappe und augenscheinlich sehr alt, wohingegen einige der Papiere noch so frisch und hell aussahen, als seien sie höchstens während der letzten fünf Jahre abgelegt worden. Der Ordner war unbeschriftet, aber auf den ersten Blättern, die er einsammelte, sprang ihm wieder und wieder das Wort »Jude« ins Auge. Er nahm die Akte und trug sie hinüber zu dem Tisch im kleinen Archiv.
Die Blätter waren nicht paginiert, und er konnte nur hoffen, daß er sie in der richtigen Reihenfolge aufgelesen hatte. Ein undatiertes Schriftstück fiel ihm besonders auf. Es war ein Romanangebot für einen Verleger, ein ungelenk getipptes Konzept ohne Autorenangabe. Die Titelzeile lautete lapidar Entwurf für Peverell Press. Daniel las:
Hintergrund und übergreifendes Thema dieses Romans mit dem Arbeitstitel Wer sein Haus auf Sünden baut ist die Mitwirkung des Vichy-Regimes bei der
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