Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
immer wieder, er hätte Sophie und die Zwillinge nicht verraten, schon weil er damit ja auch meine Mutter und den Großvater in Gefahr gebracht hätte. Und dann sagte er, es könne nur Monsieur Etienne gewesen sein. Ach, ich vergaß zu erwähnen, daß es Pascal war, der die gefälschten Papiere für Sophie und die Zwillinge besorgt hatte. Das gehörte zu seinen Aufgaben bei der Résistance; ich weiß allerdings nicht, ob mir das damals schon bekannt war. Er beschwor meine Mutter, den Mund zu halten und nichts zu unternehmen. Solche Dinge, sagte er, geschähen nicht ohne Grund, und der Chef wisse schon, was er tue. Meine Mutter ging aber trotzdem am nächsten Tag zu Monsieur Etienne, und als sie zurückkam, beriet sie sich mit meinem Großvater. Ich glaube, in dem Moment war es ihnen gleich, ob ich zuhörte oder nicht. Jedenfalls saß ich still mit einem Buch dabei, während sie sich unterhielten. Meine Mutter sagte, Monsieur Etienne habe zugegeben, daß er es war, der Sophie an die Behörden verraten hatte. Aber er hätte ihr auch versichert, daß das unbedingt nötig gewesen sei. Nur weil man ihm vertraute und auf seine Freundschaft Wert legte, so hatte er meiner Mutter erklärt, würde sie nicht dafür bestraft werden, daß sie Juden Unterschlupf gewährt hatte. Und allein dank seiner guten Beziehungen zu den Deutschen sei Pascal nicht zur Zwangsarbeit deportiert worden. Er hatte meine Mutter gefragt, was ihr wichtiger sei: die Ehre Frankreichs, die Sicherheit ihrer Familie oder drei Juden. Von da an sprach bei uns niemand mehr über Sophie und die Zwillinge. Ja, es war, als hätte es die drei nie gegeben. Und wenn ich nach ihnen fragte, dann antwortete meine Mutter nur: »Das ist vorbei. Denk nicht mehr daran.« Die Zahlungen von der Organisation, die Sophie zu uns geschickt hatte, liefen weiter, auch wenn es nicht sehr viel Geld war, und mein Großvater meinte, wir sollten es behalten. Wir waren damals nämlich sehr arm. Ich glaube, so etwa achtzehn Monate, nachdem man Sophie und die Kinder abgeholt hatte, kam ein Brief, in dem man sich nach ihnen erkundigte, aber meine Mutter schrieb zurück, daß die Behörden mißtrauisch geworden seien, weshalb Sophie vorsichtshalber zu Freunden nach Lyon gezogen sei, und es täte ihr leid, aber sie kenne die Adresse nicht. Von da an blieben die Geldsendungen aus.
Von meiner Familie ist außer mir niemand mehr am Leben. Mein Großvater starb bereits 1946, meine Mutter ein Jahrspäter an Krebs. Pascal kam 1954 bei einem Motorradunfall ums Leben. Nach meiner Heirat bin ich nie wieder nach Aubière zurückgekehrt. Was Sophie und die Kinder angeht, so erinnere ich mich an nichts weiter, außer, daß mir die Zwillinge sehr fehlten, nachdem man sie fortgeholt hatte.
Der Brief war auf den 18. Juni 1989 datiert. Dauntsey – denn niemand anders konnte diese Dokumente zusammengetragen haben – hatte über vierzig Jahre gebraucht, um Marie-Louise Robert zu finden und mit ihr den letzten, den unumstößlichen Beweis. Aber er war sogar noch weitergegangen. Das letzte Dokument in der Akte war ein Brief in deutscher Sprache vom 20. Juli 1990, dem wiederum eine Übersetzung beilag. Dauntsey hatte einen der deutschen Offiziere aufgespürt, die seinerzeit in Clermont-Ferrand stationiert gewesen waren. In knappen Sätzen und dürrer Amtssprache hatte ein alter Mann, der seit seiner Pensionierung in Bayern lebte, sich noch einmal einen kleinen Vorfall aus einer schon halb vergessenen, fernen Vergangenheit ins Gedächtnis gerufen. Seine Aussage lieferte die endgültige Bestätigung des Verrats.
Der Ordner barg darüber hinaus noch ein letztes Zeugnis, das sorgfältig in einem eigenen Umschlag aufgehoben war. Daniel öffnete das Kuvert und entnahm ihm eine Schwarzweißfotografie. Die über fünfzig Jahre alte Aufnahme vergilbte zwar schon allmählich, war aber noch klar zu erkennen. Offenbar hatte ein Amateur das Foto gemacht, auf dem ein lächelndes, dunkelhaariges Mädchen mit sanften Augen seine zwei Kinder im Arm hielt. Die beiden schmiegten sich mit ernsten Gesichtern an die Mutter und schauten mit großen Augen in die Kamera, gleichsam, als wüßten sie um die Bedeutung dieses Augenblicks und hätten begriffen, daß mit dem Klicken des Auslösers ihr schwaches kleines Leben zum letztenmal im Bild festgehalten werden würde. Daniel drehte das Foto um und las: »Sophie Dauntsey, 1920-1942. Martin und Ruth Dauntsey, 1938 bis 1942.«
Er klappte den Ordner zu und saß einen Moment lang so
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