Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
damals nicht, was mit mir geschehen würde, aber ich erinnere mich, daß ich keine allzu großen Befürchtungen hegte. Man sagte mir, was ich von meinen Habseligkeiten mitnehmen dürfe, und bevor ich ins Durchgangslager kam, wurde ich ärztlich untersucht. Man schickte mich nach Drancy, und dort traf ich dann auch die junge Mutter mit ihren Zwillingen. Sie hieß Sophie. An die Namen der Kinder erinnere ich mich nicht mehr. Sie war zuerst im Vél d’hiv’ gewesen, dann aber nach Drancy verlegt worden. Ich erinnere mich gut an sie und die Kinder, auch wenn wir nicht sehr oft miteinander gesprochen haben. Sie erzählte nicht viel von sich, eigentlich erfuhr ich nur, daß sie unter falschem Namen in der Nähe von Aubière gewohnt hatte. Ihre ganze Sorge galt den Kindern. In Drancy waren wir zusammen mit etwa fünfzig anderen in derselben Baracke untergebracht. Die Zustände, unter denen wir dort hausten, waren einfach unbeschreiblich. Es gab nicht genügend Betten, statt der Matratzen nur Strohsäcke, zu essen nichts als Kohlsuppe, und wir hatten fast alle die Ruhr. Viele Insassen starben in Drancy, ich glaube, allein in den ersten zehn Monaten waren es schon über vierhundert. Nachts höre ich manchmal immer noch das Geschrei der Kinder und das Stöhnen der Sterbenden. Für mich war Drancy genauso schlimm wie Auschwitz. Ich bin nur von einer Höllenkammer in die andere übergewechselt.
Die zweite Überlebende aus demselben Lager beschrieb das gleiche Schreckensszenario, nur noch drastischer, konnte sich aber nicht mehr an die junge Mutter und ihre Zwillinge erinnern.
Wie in Trance blätterte Daniel weiter. Er wußte jetzt, wohin der Weg führte, und dann hielt er endlich auch den Beweis in Händen: den Brief einer gewissen Marie-Louise Robert aus Quebec. Das Original war handgeschrieben und auf französisch, aber es lag eine getippte Übersetzung bei.
Mein Name ist Marie-Louise Robert, und ich bin kanadische Staatsbürgerin, die Witwe von Emil Edouard Robert, einem Frankokanadier. Wir haben uns 1958 in Kanada kennengelernt und noch im selben Jahr geheiratet. Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben. Ich bin 1928 geboren, war 1942 also gerade vierzehn Jahre alt. Damals lebte ich mit meiner verwitweten Mutter beim Großvater auf dessen kleinem Hof im Departement Puy-de-Dôme, außerhalb von Aubière, einem Städtchen südöstlich von Clermont-Ferrand. Sophie und die Zwillinge kamen im April 1941 zu uns. Es fällt mir schwer, mich jetzt im Alter zu erinnern, wieviel ich bereits damals gewußt und was ich erst später erfahren habe. Doch ich war ein wißbegieriges Kind, und es ärgerte mich immer schon, wenn die Erwachsenen Heimlichkeiten vor mir hatten und mich ständig aussperrten, weil ich angeblich noch zu klein war, als daß sie mir ihre Geheimnisse hätten anvertrauen können. Daß Sophie und ihre Kinder Juden waren, hat man mir damals nicht gesagt, aber später erfuhr ich es natürlich. Während des Krieges gab es in Frankreich viele Menschen und auch Organisationen, die, unter erheblicher Gefahr für das eigene Leben, Juden Schutz gewährten und ihnen weiterhalfen, und solch ein christlicher Verband war es auch, der Sophie und die Zwillinge zu uns schickte. Mir sagte man damals bloß, sie sei eine Freundin der Familie, die sich wegen der Bombenangriffe aus der Stadt zu uns geflüchtet habe. Mein Onkel Pascal arbeitete in einem Verlag mit angegliederter Druckerei in Clermont-Ferrand, deren Inhaber ein gewisser Monsieur Jean-Philippe Etienne war. Ich glaube, ich wußte schon damals, daß mein Onkel der Résistance angehörte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich auch gewußt habe, daß Monsieur Etienne in unserem Departement der Chef der Organisation war. Im Juli 1942 kam die Polizei zu uns und nahm Sophie und die Zwillinge mit. Gleich, als sie anrückten, schickte meine Mutter mich aus dem Haus und schärfte mir ein, ich solle in der Scheune bleiben, bis sie mich rufen würde. Ich gehorchte und lief in die Scheune, aber nach einer Weile schlich ich mich heimlich zurück und lauschte. Ich hörte lautes Schreien, und dann weinten die beiden Kleinen. Schließlich fuhr ein Auto weg und gleich darauf ein Lieferwagen. Als ich wieder ins Haus durfte, weinte meine Mutter auch, wollte mir aber nicht sagen, was passiert war.
An diesem Abend kam Onkel Pascal zu uns, und ich schlich mich leise die Treppe hinunter und belauschte die Erwachsenen in der Küche. Meine Mutter war furchtbar böse auf Pascal, aber der beteuerte
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