Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
weniger
zurückgewiesen als vielmehr verraten worden war.
Die St. John's Church konnte man nicht verfehlen. Sie stand
links an der Straße, ein gewaltiger viktorianischer Bau mit einem
dominanten Kirchturm an der Kreuzung Balaclava Gardens. Kate fragte
sich, wie die örtliche Kirchengemeinde wohl mit dieser verwitternden
architektonischen Verirrung zurechtkam. Offenbar nicht ohne Probleme.
Vor dem Eingang zeigte eine hohe Anschlagtafel eine Art gemaltes
Thermometer, das verkündete, es müssten noch dreihundertfünfzigtausend
Pfund aufgebracht werden, darunter standen die Worte: Helfen
Sie mit, unseren Turm zu retten. Ein Pfeil, der auf
einhundertdreiundzwanzigtausend zeigte, sah aus, als stünde er schon
eine ganze Weile auf diesem Niveau.
Dalgliesh hielt vor der Kirche und ging rasch hinüber, um auf
das Schwarze Brett zu schauen. Als er wieder auf seinen Sitz rutschte,
sagte er: »Stille Messe um sieben, Hochamt um halb elf, Abendandacht
und Vesper um sechs, Beichte montags, mittwochs und samstags von fünf
bis sieben. Mit etwas Glück treffen wir ihn zu Hause an.«
Kate war froh, diese Befragung nicht mit Benton durchführen zu
müssen. Durch ihre jahrelange Erfahrung mit Vernehmungen der
unterschiedlichsten Verdächtigen hatte sie die anerkannten Techniken
gelernt und auch deren Modifikationen, die aufgrund der Vielfalt von
Persönlichkeiten nötig waren. Sie wusste, wann Milde und
Einfühlungsvermögen gefragt waren und wann das als Schwäche ausgelegt
wurde. Sie hatte gelernt, nie die Stimme zu erheben oder einem Blick
auszuweichen. Doch die Vernehmung dieses Verdächtigen, so er sich denn
als solcher herausstellte, würde ihr nicht leichtfallen.
Es war schwierig genug, sich einen Geistlichen als Mörder
vorzustellen, aber wenn es nun einen peinlichen, wenn auch weniger
schrecklichen Grund dafür gab, dass er spätnachts an einer so
abgelegenen, einsamen Stelle haltgemacht hatte? Wie sollte sie ihn
eigentlich genau anreden? War er Vikar, Pfarrer, Pastor, Priester? Sie
hatte alle Bezeichnungen in verschiedenen Situationen schon gehört,
aber die Feinheiten, insbesondere die orthodoxen Überlieferungen der
nationalen Religion waren ihr fremd. Die Morgenversammlung in ihrer
innerstädtischen Gesamtschule hatte sich gezielt an viele
Glaubensrichtungen gewandt, mit gelegentlichen Referenzen an das
Christentum. Das wenige, was sie über die Landeskirche wusste, hatte
sie über die Architektur und Literatur und von den Bildern in den
größeren Galerien gelernt. Sicher, sie war intelligent und
interessierte sich für das Leben und die Menschen, aber ihr Beruf, den
sie liebte, hatte große Teile ihrer intellektuellen Neugier befriedigt.
Ihr persönliches Credo, Ehrlichkeit, Mut und das Bekenntnis zur
Wahrheit in zwischenmenschlichen Beziehungen hatte keine mystische
Grundlage und benötigte diese auch nicht. Ihre Großmutter, die sie
widerwillig großgezogen hatte, hatte ihr nur einen einzigen Rat
gegeben, der die Religion betraf. Kate hatte ihn schon im Alter von
acht Jahren wenig hilfreich gefunden.
Sie hatte gefragt: »Oma, glaubst du an Gott?«
»Das ist aber eine verrückte Frage. In deinem Alter, da macht
man sich doch keine Gedanken über Gott. Was Gott betrifft, musst du
dich nur an eines halten. Wenn du im Sterben liegst, ruf einen
Priester. Er sorgt dafür, dass alles gut wird.«
»Aber wenn ich nicht weiß, dass ich sterbe?«
»Das wissen aber die meisten. Da ist noch Zeit genug, sich
Gedanken über Gott zu machen.«
Nun, in diesem Augenblick musste sie sich jedenfalls keine
Gedanken machen. AD war Sohn eines Priesters und hatte bereits
Erfahrung mit der Vernehmung von Pfarrern. Wer sollte besser mit
Reverend Michael Curtis umgehen können als er?
Sie bogen in Balaclava Gardens ein. Sollten hier jemals Gärten
gewesen sein, so waren jetzt nur noch ein paar Bäume davon übrig. Viele
der original viktorianischen Reihenhäuser standen noch, aber Nummer
zwei sowie vier, fünf weitere Häuser dahinter waren eckige moderne
Gebäude aus rotem Ziegelstein. Nummer zwei war das größte, mit einer
Garage auf der linken Seite und einer kleinen Wiese vor dem Haus mit
einem Beet in der Mitte. Die Garagentür war offen, und im Inneren stand
ein dunkelblauer Ford Focus mit dem Nummernschild W 341 UDG.
Kate klingelte. Bevor geöffnet wurde, waren eine Frauenstimme
und das hohe Geschrei eines Kindes zu vernehmen. Nach einer gewissen
Verzögerung wurde der Schlüssel im Schloss gedreht, und die Tür ging
auf.
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