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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Jahr Pause gönnen, bevor ich
mich für eine Stelle bewarb. Ich hatte das Gefühl, zu lange akademische
Luft geatmet zu haben und wollte reisen, etwas von der Welt sehen,
Menschen mit ganz anderen Erfahrungen kennenlernen, bevor ich begann zu
unterrichten. Es tut mir leid, ich habe mir selbst vorgegriffen. Wir
müssen wieder zu der Zeit zurück, als ich den Studienplatz an der
London University bekam.
    Meine Eltern waren immer schon arm – wir hatten keine
Existenzängste, aber wir mussten jeden Penny umdrehen –, und
alles Geld, was ich brauchte, musste ich mir entweder von meinem
Stipendium aufsparen oder es mir in den Ferien erarbeiten. Als ich nach
London ging, konnte ich mir daher nur eine billige Unterkunft leisten.
Im Stadtzentrum war es natürlich zu teuer, und ich musste weiter
außerhalb suchen. Ein Freund, der im Jahr zuvor einen Studienplatz
bekommen hatte, wohnte in Gidea Park, einer Vorstadt in Essex, und er
schlug mir vor, es dort zu probieren. Als ich ihn besuchte, sah ich
eine Anzeige vor einem Tabakladen. Jemand hatte ein Zimmer zu
vermieten, geeignet für einen Studenten, in Silford Green, das lag nur
zwei Stationen weiter an der East London Line. Ich rief bei der
angegebenen Nummer an und fuhr zu dem Haus. Es war eine
Doppelhaushälfte, bewohnt von Stanley Beale, einem Hafenarbeiter,
seiner Frau und ihren beiden Töchtern: Shirley, elf Jahre, und ihrer
jüngeren Schwester Lucy, die acht war. Die Großmutter mütterlicherseits
wohnte ebenfalls in dem Haus. Eigentlich war dort gar kein Platz für
einen Untermieter. Die Großmutter teilte sich das größte Zimmer mit den
beiden Mädchen, Mr. und Mrs. Beale bewohnten das zweite Schlafzimmer,
das sich ebenfalls auf der Rückseite des Hauses befand. Aber es war
billig, lag nahe am Bahnhof, die Fahrt dauerte nicht lange und war
unkompliziert, und ich brauchte dringend etwas. Die erste Woche
bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Der Ehemann und die Frau
brüllten einander nur an, und die Großmutter, eine missmutige alte
Frau, ärgerte sich offenbar darüber, dass sie als Kindermädchen benutzt
wurde. Immer wenn wir uns begegneten, klagte sie über ihre Pension, den
Gemeinderat, die häufige Abwesenheit ihrer Tochter, die unverschämte
Forderung ihres Schwiegersohns, dass sie für Kost und Logis etwas
beisteuern sollte. Da ich an den meisten Tagen in London war und abends
häufig noch lange in der Universitätsbibliothek arbeitete, ging ich den
schlimmsten Auseinandersetzungen in der Familie aus dem Weg. Innerhalb
einer Woche nach meiner Ankunft zog Beale schließlich aus, nach einem
Streit, der die Wände erzittern ließ. Ich hätte das auch tun können,
doch was mich dort hielt, war die jüngere Tochter Lucy.«
    Er hielt inne. Das Schweigen zog sich in die Länge, ohne dass
es jemand unterbrach. Er hob den Kopf, um Dalgliesh anzusehen, und Kate
konnte die Qual, die sich in seiner Miene spiegelte, kaum ertragen.
    »Wie soll ich sie Ihnen beschreiben?«, fuhr er schließlich
fort. »Wie kann ich Ihnen das begreiflich machen? Sie war ein
faszinierendes Kind. Sie war hübsch, aber das war es nicht allein. Sie
besaß Anmut, Liebenswürdigkeit, eine feine Intelligenz. Ich richtete es
so ein, dass ich früher nach Hause kam, um in meinem Zimmer zu lernen,
so dass Lucy noch zu mir kommen konnte, bevor sie zu Bett ging. Sie
klopfte bei mir an die Tür, kam herein, setzte sich leise hin und las,
während ich arbeitete. Ich nahm Bücher mit nach Hause, und wenn ich das
Schreiben unterbrach, um mir einen Kaffee und ihr eine warme Milch zu
machen, unterhielten wir uns. Ich versuchte ihre Fragen zu beantworten.
Wir sprachen über das Buch, das sie gerade las. Ich sehe sie heute noch
vor mir. Ihre Kleider sahen aus, als hätte ihre Mutter sie auf dem
Trödel gekauft, im Winter lange Sommerkleider unter einer unförmigen
Jacke, kurze Socken und Sandalen. Wenn sie fror, so sagte sie es nie.
Manchmal fragte ich ihre Mutter am Wochenende, ob ich sie mit nach
London nehmen dürfte, um in ein Museum oder eine Galerie zu gehen. Das
stellte nie ein Problem dar; sie war froh, wenn Lucy beschäftigt war,
besonders wenn sie ihre Männer mit nach Hause brachte. Ich wusste
natürlich, was da vor sich ging, aber das lag nicht in meiner
Verantwortung. Ich wäre nicht geblieben, wenn Lucy nicht gewesen wäre.
Ich habe das Kind geliebt.«
    Wieder schwieg er, dann fuhr er fort: »Ich weiß, was Sie nun
fragen werden. War das eine sexuelle Beziehung? Ich kann nur

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