Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
Vom Netzwerk:
sagen,
allein der Gedanke daran wäre Gotteslästerung für mich gewesen. Ich
habe sie nie auf diese Weise berührt. Aber es war Liebe. Und ist Liebe
nicht immer bis zu einem gewissen Grad körperlich? Nicht sexuell, aber
körperlich? Freude an der Schönheit und Anmut des Menschen, der geliebt
wird? Sehen Sie, ich bin Schulleiter. Ich kenne all die Fragen, die mir
gestellt werden. ›Waren irgendwelche Ihrer Handlungen unangemessen?‹
Wie soll man das beantworten, in einer Zeit, in der es als unangemessen
betrachtet wird, wenn man einem weinenden Kind den Arm um die Schulter
legt? Nein, unangemessen war es nie, aber wer glaubt mir das schon?«
    Nun schwieg er länger. Dalgliesh fragte: »Lebte damals Shirley
Beale, oder Sharon Bateman, wie sie heute heißt, in dem Haus?«
    »Ja. Sie war die ältere Schwester, ein schwieriges,
missmutiges, unkommunikatives Kind. Es war kaum zu glauben, dass die
beiden Schwestern waren. Sie hatte die verstörende Angewohnheit, Leute
anzustarren, ohne etwas zu sagen, sie schaute nur, es war ein
vorwurfsvoller Blick, eher erwachsen als kindlich. Ich glaube, ich
hätte begreifen müssen, dass sie unglücklich war – ich muss es
sogar begriffen haben –, aber ich hatte nicht das Gefühl,
etwas ausrichten zu können. Als ich einmal vorhatte, Lucy nach London
mitzunehmen, um ihr Westminster Abbey zu zeigen, fragte ich sie, ob
Shirley vielleicht auch Lust habe, mitzukommen. Lucy meinte: ›Ja, frag
sie doch‹, und das tat ich auch. Ich kann mich nicht erinnern, welche
Antwort ich genau bekommen habe; sie sagte etwas in dem Sinne, dass sie
nicht in das langweilige London in die langweilige Kirche mit so jemand
Langweiligem wie mir fahren wollte. Aber ich weiß noch, wie froh ich
war, dass ich mich überwunden hatte, sie zu fragen, und dass sie
abgelehnt hatte. Danach musste ich mir nicht mehr die Mühe machen. Ich
hätte wohl merken müssen, was sie empfand – sie fühlte sich
vernachlässigt, zurückgestoßen –, aber ich war zweiundzwanzig
und besaß nicht die Einfühlsamkeit, ihren Schmerz zu erkennen und damit
umzugehen.«
    Nun mischte sich Kate ein. »Lag es denn überhaupt in Ihrer
Verantwortung, damit umzugehen? Sie waren doch nicht ihr Vater. Wenn
etwas falsch lief, musste doch die Familie selbst mit den Problemen
zurechtkommen.«
    Beinahe erleichtert wandte er sich ihr zu. »Genau das rede ich
mir bis heute ein. Aber ich weiß nicht, ob ich es mir glaube. Das Haus
war weder für mich noch für einen von ihnen ein angenehmes Heim. Wenn
Lucy nicht gewesen wäre, hätte ich mir woanders etwas gesucht. Wegen
ihr blieb ich bis zum Ende meiner Ausbildung dort wohnen. Nachdem ich
die Lehrerprüfung bestanden hatte, beschloss ich, meine geplante Reise
anzutreten. Bis auf eine Schulfahrt nach Paris war ich noch nie im
Ausland gewesen, und ich nahm mir zunächst die üblichen Ziele vor: Rom,
Madrid, Wien, Siena, Verona, dann ging es weiter nach Indien und Sri
Lanka. Zu Anfang habe ich Lucy noch Postkarten geschrieben, manchmal
sogar zweimal die Woche.«
    »Wahrscheinlich hat Lucy Ihre Karten nie bekommen«, klärte ihn
Dalgliesh auf. »Wir vermuten, dass Shirley sie abgefangen hat. Jemand
hat sie auseinandergeschnitten und neben einem der Cheverell-Steine
vergraben, wo sie jetzt gefunden wurden.«
    Er erklärte nicht, was es mit dem Steinkreis auf sich
hatte. Aber musste er das überhaupt?, fragte sich Kate.
    »Irgendwann habe ich dann damit aufgehört. Ich vermutete, dass
Lucy mich entweder vergessen oder genug mit der Schule zu tun hatte;
mein Einfluss war über einen gewissen Zeitraum wichtig für sie gewesen,
aber nicht auf Dauer. Und das Schreckliche ist: Ich war irgendwie
erleichtert. Ich musste mich um meine berufliche Laufbahn kümmern, und
Lucy wäre womöglich gleichermaßen eine Verpflichtung wie eine Freude
gewesen. Und ich suchte nach erwachsener Liebe – tun wir das
nicht alle in unserer Jugend? Von dem Mord erfuhr ich in Sri Lanka.
Zunächst wurde mir körperlich schlecht, so schockiert und entsetzt war
ich. Ich trauerte natürlich um das Kind, das ich geliebt hatte. Doch
wenn ich später an das Jahr mit Lucy zurückdachte, kam es mir immer vor
wie ein Traum, und mein Schmerz verselbständigte sich zu einer
allgemeinen Trauer um alle vernachlässigten und ermordeten Kinder und
den Tod der Unschuld. Vielleicht, weil ich mittlerweile selbst ein Kind
hatte. Ich schrieb weder der Mutter noch der Großmutter eine
Beileidsbekundung. Ich erwähnte nie irgendjemandem

Weitere Kostenlose Bücher