Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Schwelle stehen, bevor sie
eintrat und ihre Mutter auch gleich entdeckte. Sie stand neben ihrem
Bräutigam inmitten einer kleinen Gruppe schwatzender Frauen. Rhodas
Eintritt blieb beinahe unbemerkt, aber sie ging langsam auf sie zu und
sah, dass ihr Gesicht sich zu einem zaghaften Lächeln verzog. Sie
hatten sich seit vier Jahren nicht gesehen, aber sie sah jünger aus und
glücklicher, und nach ein paar Sekunden gab sie Rhoda einen
vorsichtigen Kuss auf die rechte Wange und drehte sich zu dem Mann an
ihrer Seite um. Er war alt, mindestens siebzig, schätzte Rhoda, beinahe
etwas kleiner als ihre Mutter, und hatte ein weiches, pausbäckiges,
freundliches und ein wenig furchtsames Gesicht. Er schien etwas
verwirrt, und ihre Mutter musste Rhodas Namen zweimal nennen, ehe er
lächelte und ihr die Hand gab. Sie wurde den anderen vorgestellt. Die
Gäste sahen nachdrücklich über die Narbe hinweg. Dafür nahmen ein paar
herumtobende Kinder sie umso dreister in Augenschein, bevor sie lärmend
durch die Glastür verschwanden, um draußen zu spielen. Rhoda erinnerte
sich an Gesprächsfetzen. »Ihre Mutter erzählt so oft von
Ihnen.« – »Sie ist mächtig stolz auf Sie.« – »Schön,
dass Sie die weite Reise nicht gescheut haben.« – »Ist das
nicht ein prachtvoller Tag dafür?« – »Ist es nicht schön, die
beiden so glücklich zu sehen.«
Das Essen und der Service waren besser, als sie erwartet
hatte. Ein fleckenlos weißes Tischtuch bedeckte die lange Tafel, Tassen
und Teller strahlten, und ein erster Biss in das Sandwich bestätigte,
dass der Schinken ganz frisch war. Sie wurden von drei nicht mehr ganz
jungen, als Dienstmädchen verkleideten Frauen mit geradezu
entwaffnender Freundlichkeit bedient. Aus einer großen Kanne wurde
starker Tee ausgeschenkt, und nach ausgiebigem Getuschel zwischen Braut
und Bräutigam servierte man verschiedene Drinks aus der Bar. Die
Unterhaltung, bis dahin gedämpft wie auf einer Beerdigung, wurde
lebhafter, man erhob die Gläser, von denen manche mit Flüssigkeiten in
den sonderbarsten Farben gefüllt waren. Nach ausführlichem Palaver
zwischen ihrer Mutter und dem Barkeeper trug man feierlich die
Champagnergläser herein. Es war Zeit für den Trinkspruch.
Diese Aufgabe fiel dem Pfarrer zu, der das Paar getraut hatte,
einem rothaarigen jungen Mann, der jetzt, aus seiner Soutane befreit,
ein Kollar unter einem Sportjackett trug, dazu graue Hosen. Er hob
sacht die Hände, als gelte es, eine ausgelassene Stimmung zu dämpfen,
und hielt eine kurze Ansprache. Offenbar war Ronald der Organist der
Kirche, und da durften ein paar bemühte Anspielungen auf alle zu
ziehenden Register und ein harmonisches Zusammenleben bis ans Ende der
Tage natürlich nicht fehlen; harmlose Zwischenrufe, an die sie sich
nicht erinnerte, wurden von den mutigeren Gästen mit verschämtem
Gelächter begrüßt.
Um den Tisch herum herrschte Gedränge, und sie ging mit dem
Teller in der Hand hinüber zum Fenster, dankbar für den Moment, in dem
sie von den hungrigen Gästen in Ruhe gelassen wurde. Sie beobachtete
die Leute mit einer Mischung aus kritischer Aufmerksamkeit und
boshaftem Vergnügen – die Männer in ihren Sonntagsanzügen,
deren Jacken sich hier und da über runden Bäuchen und gepolsterten
Schultern spannten, die Frauen, die sichtlichen Aufwand betrieben und
die Gelegenheit zur Vorführung neuer Errungenschaften ergriffen hatten.
Die meisten trugen wie Rhodas Mutter geblümte Sommerkleider mit dazu
passenden Jacken, mancher pastellfarbene Strohhut wollte nicht recht
auf die frisch toupierte Frisur passen. In den dreißiger und vierziger
Jahren hätten sie nicht entschieden anders ausgesehen, dachte Rhoda.
Ein neues unwillkommenes, aus Mitleid und Zorn bestehendes Gefühl
beunruhigte sie. Ich gehöre hier nicht her, ich fühle mich
nicht wohl mit ihnen, und sie sich nicht mit mir. Ihre betretene
Höflichkeit vermag die Kluft zwischen uns nicht zu überbrücken. Aber
hier komme ich her, diese Leute sind meinesgleichen, die gehobene, sich
mit der Mittelschicht vermischende Arbeiterklasse, die amorphe,
unbeachtete Masse, die für das Land die Kriege führt, brav ihre Steuern
zahlt und sich an das klammert, was man ihr an Traditionen gelassen
hat. Diese Menschen hatten erleben müssen, wie ihr
schlichter Patriotismus verspottet, ihre Gesinnung verachtet, ihre
Ersparnisse entwertet worden waren. Sie haben keinen Ärger gemacht. In
ihre Viertel mussten nicht regelmäßig Millionen aus
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