Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Die
Beklommenheit, die vage Verwirrtheit, die sie im Auto gespürt hatte,
als sie allein da draußen im Unwetter saß, war noch nicht verflogen.
Ohne jedes Gefühl – außer einer leisen Erleichterung,
angekommen zu sein – betrat sie die große Eingangshalle mit
dem zentralen Treppenhaus. Lieber wäre sie jetzt allein, der
Notwendigkeit des Händeschüttelns und förmlicher Begrüßungen enthoben.
Sie sehnte sich nach der Stille ihres Zuhauses, der vertrauten
Behaglichkeit ihres Betts.
Die Eingangshalle war eindrucksvoll – damit hatte sie
gerechnet –, aber nicht einladend. Nachdem der Mann ihren
Koffer am Fuß der Treppe abgestellt hatte, öffnete er links von sich
eine Tür und rief hinein: »Miss Gradwyn, Miss Cressett«, bevor er ihn
wieder zur Hand nahm und damit die Treppe hinaufstieg.
Sie trat durch die Tür und fand sich in einem Saal wieder, der
Bilder heraufbeschwor, die sie vielleicht in der Kindheit und bei
Besuchen in anderen Herrenhäusern gesehen hatte. Nach der Dunkelheit
draußen war er erfüllt von Farben und Licht. Die gewölbten Balken unter
der hohen Decke waren geschwärzt vom Alter. Sorgsam geschnitzte
Faltenfüllung bedeckte den unteren Teil der Wände, und darüber hingen
in langer Reihe Porträts aus Tudor-, Regency- und viktorianischer Zeit,
gemalt von unterschiedlich begabten Künstlern und in manchen Fällen
wohl eher aus Respekt vor der Familie denn aus ästhetischen Erwägungen
dort aufgehängt. Ihr gegenüber befand sich ein steinerner Kamin, über
dem ein steinernes Wappen prangte. Ein Holzfeuer knisterte auf dem
Rost, die tanzenden Flammen warfen einen roten Schein auf die drei
Gestalten, die sich erhoben hatten, um sie zu begrüßen.
Sie hatten offensichtlich beim Tee gesessen. Die beiden mit
Leinen bezogenen Ohrensessel, die einzigen moderneren Möbelstücke im
Raum, waren im rechten Winkel zum Kamin aufgestellt. Zwischen ihnen
stand auf einem niedrigen Tisch ein Tablett mit den Überresten der
Mahlzeit. Das Willkommenskomitee bildeten ein Mann und zwei Frauen,
auch wenn das Wort ›Willkommen‹ fehl am Platze schien, denn sie kam
sich wie ein Eindringling vor, zur Unzeit zum Tee erschienen und ohne
großen Überschwang erwartet.
Die größere der beiden Frauen übernahm das Vorstellen. »Ich
bin Helena Cressett«, sagte sie. »Wir haben telefoniert. Ich bin froh,
Sie wohlbehalten zu sehen. Wir hatten ein schlimmes Unwetter, aber die
sind oft lokal begrenzt. Vielleicht sind Sie verschont geblieben. Darf
ich Ihnen Flavia Holland vorstellen, die OP-Schwester, und Marcus
Westhall, der Mr. Chandler-Powell bei der Operation assistieren wird.«
Sie gaben sich die Hände, Gesichter verzogen sich zu einem
Lächeln. Rhodas erster Eindruck von neuen Bekanntschaften war immer
sehr direkt und nachhaltig, ein visueller Eindruck, der sich ihr
einprägte, sich nie mehr ganz auslöschen ließ und mit der Wahrnehmung
eines zugrundeliegenden Charakters einherging. Diese konnte
sich – wie sie aus Erfahrung wusste – mit der Zeit
und durch nähere Bekanntschaft als absolut falsch herausstellen, aber
das passierte ihr nicht oft. Jetzt, mit ihrer von Müdigkeit getrübten
Wahrnehmung, erschienen sie ihr beinahe wie Stereotypen. Helena
Cressett im perfekt geschnittenen Hosenanzug mit Rollkragenpullover,
der es vermied, zu elegant für ein Landhaus zu wirken, und trotzdem
keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht von der Stange war. Kein
Make-up bis auf Lippenstift; feines, blasses Haar mit einem Hauch
Kastanienbraun umrahmte ein Gesicht mit hohen, hervorstehenden
Wangenknochen, die Nase eine Idee zu lang; ein Gesicht, das man als
attraktiv, aber sicher nicht als schön bezeichnen würde. Bemerkenswerte
graue Augen betrachteten sie eher mit Neugier als mit förmlicher
Freundlichkeit. Früher Schulsprecherin, jetzt Schulleiterin, dachte
Rhoda, oder, noch wahrscheinlicher, Rektorin eines College in Oxbridge . Ihr
Händedruck war fest, die neue Studentin wurde mit Vorbehalt begrüßt,
die Beurteilung zurückgestellt.
Schwester Holland war weniger förmlich in Jeans, schwarzen
Pullover und Veloursweste gekleidet, bequeme Kleidung, die betonte,
dass sie von der unpersönlichen Tracht ihrer Tätigkeit befreit und
außer Dienst war. Sie hatte dunkles Haar und ein freches Gesicht, aus
dem sexuelles Selbstbewusstsein sprach. Ihre großen dunklen Augen,
deren Pupillen fast schwarz wirkten, musterten die Narbe, als wollte
sie abschätzen, welche Probleme von dieser neuen Patientin zu
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