Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
habe gar nicht gewusst, dass er auf der Universität war.
Er hat mir nichts davon erzählt.«
»Na ja, du weißt doch warum? Weil er dachte, es interessiert
dich nicht. Er hat nicht gern geredet, nicht von sich selbst.« Keiner
von ihnen hatte gern geredet. Sie hatten sich mit den Gewaltausbrüchen,
hilflosem Zorn und der Scham abgefunden. Die wichtigen Dinge waren
unausgesprochen geblieben. Als sie ihrer Mutter ins Gesicht schaute,
fragte sie sich, warum sie jetzt damit anfangen sollte. Ihre Mutter
hatte ja recht. Es konnte für ihren Vater nicht leicht gewesen sein,
Woche für Woche eine Fünfpfundnote zu erübrigen. Sie war immer ohne
viele Worte gekommen, manchmal mit einem kurzen Gruß in zittriger
Handschrift: Alles Liebe, dein Vater. Sie hatte
das Geld genommen, weil sie es brauchte, und den Brief weggeworfen. Mit
der grausamen Gleichgültigkeit Heranwachsender hatte sie ihn für
unwürdig befunden, ihr seine Liebe zu schenken, von der sie wusste,
dass sie ein schwierigeres Geschenk als Geld war. Vielleicht war in
Wirklichkeit sie seiner Liebe nicht wert gewesen. Über dreißig Jahre
lang hatte sie ihre Verachtung, ihren Groll und, ja, ihren Hass gehegt.
Aber dieser schlammige Fluss in Essex, dieser einsame Tod, hatte ihn
für immer ihrer Macht entzogen. Sie hatte sich nur selbst weh getan,
und das erkannt zu haben, konnte der erste Schritt zur Heilung sein.
»Es ist nie zu spät, jemanden zu finden, den man lieben kann«,
sagte ihre Mutter. »Du bist eine attraktive Frau, Rhoda, du solltest
etwas wegen deiner Narbe unternehmen.«
Worte, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Worte, die seit
Miss Farrell niemand mehr auszusprechen gewagt hatte. Sie wusste nicht
mehr genau, was danach passiert war, nur dass sie leise und ohne jede
Emphase geantwortet hatte.
»Ich lasse sie wegmachen.«
Sie musste eingeschlafen sein. Als sie
wieder ganz wach war, stellte sie erstaunt fest, dass es zu regnen
aufgehört hatte. Es war dunkel geworden. Sie schaute auf das
Armaturenbrett. Viertel vor fünf. Sie war jetzt fast drei Stunden
unterwegs. Das Motorengeräusch zerriss die unerwartete Stille, als sie
vorsichtig vom Seitenstreifen auf die Straße rollte. Der Rest der Fahrt
war einfach. Die Abzweigungen kamen an den erwarteten Punkten, die
Lichtkegel ließen beruhigende Namen auf den Wegweisern aufleuchten.
Eher als erwartet las sie den Namen Stoke Cheverell und bog nach rechts
ab auf die letzten anderthalb Meilen. Die Dorfstraße war verlassen,
Lampen leuchteten hinter zugezogenen Vorhängen, und nur der Dorfladen
an der Ecke mit seinen hellen, vollgestellten Schaufenstern, hinter
denen ein paar späte Kunden zu sehen waren, zeigte Anzeichen von Leben.
Und dann kam sie zu dem Schild, auf das sie gewartet hatte, Cheverell
Manor. Die eisernen Torflügel standen offen. Sie wurde erwartet. Sie
fuhr die kurze Allee entlang, die sich auf einen Halbkreis öffnete, und
das Haus stand vor ihr.
Die Broschüre, die man ihr im Anschluss an die erste
Konsultation überreicht hatte, hatte ein Foto von Cheverell Manor
enthalten, aber das war nur eine blasse Annäherung an die Wirklichkeit
gewesen. Im Licht der Scheinwerfer sah sie die Umrisse des Hauses, das
ihr größer als erwartet vorkam, ein dunkler Koloss vor dem noch
dunkleren Himmel. Es breitete sich zu beiden Seiten eines hohen
zentralen Giebels aus, in dem ganz oben zwei Fenster waren. Hinter
ihnen brannte ein blasses Licht, aber bis auf vier große zweigeteilte
Fenster links von der Eingangstür, die hell erleuchtet waren, waren
alle anderen dunkel. Als sie den Wagen langsam unter den Bäumen
ausrollen ließ, öffnete sich die Tür, und grelles Licht ergoss sich
über den Kies.
Sie stellte den Motor ab, stieg aus und öffnete die hintere
Tür, um den Reisekoffer vom Rücksitz zu nehmen; die kühle, feuchte Luft
atmete sich herrlich leicht nach der Autofahrt. Eine männliche Gestalt
erschien in der Tür und kam auf sie zu. Obwohl es nicht mehr regnete,
trug er einen Plastikregenmantel mit Kapuze, die ihm über die Stirn
reichte wie eine Babyhaube und ihm das Aussehen eines bösen Kindes gab.
Er ging festen Schrittes und hatte eine kräftige Stimme, aber sie sah,
dass er nicht mehr jung war. Er nahm ihr die Tasche mit festem Griff
aus der Hand und sagte: »Wenn Sie mir den Schlüssel geben, stelle ich
den Wagen für Sie ab. Miss Cressett sieht es nicht gerne, wenn Autos
vor dem Haus parken. Sie werden schon erwartet.«
Sie gab ihm den Autoschlüssel und folgte ihm ins Haus.
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