Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
und war in der Lage, ihre Fantasie zu zügeln.
Der anstehenden Operation sah sie zuversichtlich entgegen, auch wenn es
durchaus vernünftige Gründe dafür gab, nervös zu sein; eine Vollnarkose
war nicht ohne Risiken. Doch die Beklommenheit, die sie jetzt spürte,
ging tiefer als die Sorge über diesen vorbereitenden Besuch oder die
Operation. Es war ein unangenehmes, irrationales Gefühl, als würde eine
bisher unbekannte oder aus ihrem Bewusstsein verdrängte Realität sich
langsam bemerkbar machen und darauf bestehen, wahrgenommen zu werden.
Es war sinnlos, das Tosen des Unwetters mit Musik übertönen zu
wollen, also fuhr sie ihren Sitz zurück und schloss die Augen.
Erinnerungen, ältere und nicht so alte, kamen ihr ungehindert in den
Sinn. Sie erlebte noch einmal den Tag im Mai vor sechs Monaten, mit dem
alles anfing, der sie erst auf diese Fahrt, dieses gottverlassene Stück
Landstraße gebracht hatte. Der Brief ihrer Mutter hatte zusammen mit
uninteressanter Post im Briefkasten gesteckt: Wurfsendungen,
Einladungen zu Kongressen, an denen sie nicht teilnehmen wollte,
Rechnungen. Briefe ihrer Mutter waren meist noch knapper gehalten als
ihre Telefongespräche, und Rhoda hatte den Umschlag, quadratischer und
dicker als diejenigen, die ihre Mutter normalerweise versandte, mit der
leisen Vorahnung zur Hand genommen, es könnte etwas nicht in Ordnung
sein – Krankheit oder Probleme mit dem Bungalow, die ihr
Kommen erforderten. Und dann war es eine Einladung zur Hochzeit. Auf
einer Karte gaben Mrs. Ivy Gradwyn und Mr. Ronald Brown in von
Hochzeitsglocken gerahmter Schmuckschrift der Hoffnung Ausdruck, alle
Freunde und Angehörigen bei der Feier ihrer Hochzeit begrüßen zu
dürfen. Darunter standen Datum, Tageszeit, die Adresse der Kirche und
der Name eines Hotels, in dem alle Gäste willkommen wären. Dazu eine
handschriftliche Notiz ihrer Mutter: Bitte komm, wenn du es
irgend möglich machen kannst, Rhoda. Ich weiß nicht, ob ich dir von
Ronald geschrieben habe. Er ist Witwer, und seine Frau war eine meiner
besten Freundinnen. Er freut sich sehr darauf, dich kennenzulernen.
Sie erinnerte sich an ihre Reaktion – Erstaunen und
die von leiser Scham begleitete Erleichterung, dass diese Heirat sie
womöglich von einem Teil der Verantwortung für ihre Mutter, ihrem
schlechten Gewissen wegen der seltenen Briefe und Anrufe und der noch
selteneren Besuche entlastete. Sie begegneten sich als höfliche, aber
wachsame Fremde, immer noch gehemmt durch das Unaussprechliche, die
Erinnerungen, die sie sorgsam unter Verschluss hielten. Sie glaubte
nicht, schon von Ronald gehört zu haben, und verspürte auch nicht den
Wunsch, ihn kennenzulernen, aber diese Einladung konnte sie auf keinen
Fall ablehnen.
Jetzt durchlebte sie noch einmal den bedeutungsvollen Tag, der
nichts als artig zu ertragende Langeweile versprochen hatte, und ihr
stattdessen diesen regengepeitschten Augenblick und alles, was noch vor
ihr lag, beschert hatte. Sie war rechtzeitig aufgebrochen, aber ein
umgestürzter Lastwagen hatte seine Ladung auf der Autobahn verloren,
und als sie vor der Kirche ankam, einem finsteren, neugotischen Bau,
hörte sie den unsicher näselnden Gesang des wohl schon letzten Chorals.
Sie parkte ein Stück die Straße hinauf und blieb im Wagen sitzen, bis
die Hochzeitsgesellschaft, in der Mehrzahl Menschen mittleren oder
höheren Alters, aus der Kirche kam. Ein Auto mit weißen Bändern war
vorgefahren, aber sie war zu weit entfernt, um ihre Mutter oder den
Bräutigam erkennen zu können. Hinter den anderen Autos folgte sie dem
Brautwagen etwa sechs Kilometer die Küste hinauf zu dem Hotel, einem
edwardianischen Gebäude mit vielen Türmchen, das flankiert war von
Bungalows und hinter dem ein Golfplatz lag. Die große Zahl dunkler
Balken in der Fassade deutete auf die Absicht des Architekten, im
Tudorstil zu bauen, aber dann musste die Hybris ihn dazu verführt
haben, das Gebäude mit einer Zentralkuppel samt palladianischem
Portikus zu versehen.
Die Eingangshalle hatte eine Atmosphäre längst verblasster
Größe, Vorhänge aus rotem Damast warfen schmuckvolle Falten, der
Teppich trug einen grauen Schleier aus jahrhundertealtem Staub. Sie
gesellte sich zu den anderen Hochzeitsgästen, die sich etwas
unentschlossen in Richtung eines Raums im Hintergrund bewegten, dessen
Bestimmung ein gedruckter Zettel auf einem Anschlagbrett neben der Tür
verkündete: Privatveranstaltungen. Einen
Augenblick blieb sie unentschlossen auf der
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