Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
und sich an dem kultivierten Unterhaltungsprogramm zu erfreuen,
das Selina und ihr Gemahl zu seinen Ehren zusammenstellten. Er blieb
nie länger als eine Woche und flog dann nach Rom weiter, wo er immer in
derselben Pensione vor den
Toren der Stadt abstieg, in der er zum ersten Mal gewohnt hatte, als er
noch in Oxford studierte, und wo man ihn ohne Getue willkommen hieß und
er niemanden sehen musste. Aber der jährliche New-York-Besuch war ihm
zur Gewohnheit geworden, und im Moment sah er keinerlei Grund, damit zu
brechen.
Man erwartete ihn nicht vor Mittwochnacht im Manor. Die erste
Operation stand am Donnerstagmorgen an, aber heute Morgen hatten die
beiden Stationen für Kassenpatienten wegen einer Infektion geschlossen
werden müssen, und die gesamte Liste für den nächsten Tag war
verschoben worden. Als er nun in seiner Wohnung am Barbican am Fenster
stand und auf die Lichter der Stadt hinunterschaute, erschien ihm die
Wartezeit auf einmal viel zu lang. Er wollte hinaus aus London, sich
vor das Kaminfeuer im großen Saal des Manor setzen, die Lindenallee
entlangspazieren, eine weniger belastete Luft atmen, in der ein Hauch
von Holzrauch, Erde und gemulchtem Laub lag.
Mit der unbekümmerten Euphorie eines Schuljungen vor der Fahrt
in die Ferien warf er das Gepäck für die nächsten paar Tage in eine
Reisetasche und sprang, zu ungeduldig für den Fahrstuhl, die Treppen
hinunter zur Tiefgarage und seinem wartenden Mercedes. Es folgte die
gewohnte Quälerei durch den Feierabendverkehr, aber als er auf der
Autobahn war, gewannen – wie jedes Mal, wenn er alleine durch
die Nacht fuhr – Erleichterung und Freude über die
Geschwindigkeit die Oberhand, und unzusammenhängende Gedanken an die
Vergangenheit flogen ihm wie eine Abfolge verblasster, bräunlicher
Fotografien unbeschwert durch den Kopf. Er schob eine CD mit Bachs
Violinkonzert in d-Moll in den Player und ließ, die Hände locker an das
Lenkrad gelegt, Musik und Gedanken zu kontemplativer Ruhe verschmelzen.
An seinem fünfzehnten Geburtstag war er im Hinblick auf drei
Dinge, die seine Gedanken seit der Kindheit immer stärker beschäftigt
hatten, zu Entscheidungen gekommen: Es gab keinen Gott. Er liebte seine
Eltern nicht. Er würde Chirurg werden. Die erste Entscheidung
erforderte keinerlei Maßnahmen, er musste nur der Tatsache Rechnung
tragen, dass weder Hilfe noch Trost von einem übernatürlichen Wesen zu
erwarten waren und sein Leben wie das aller anderen von der Zeit und
vom Schicksal bestimmt wurde, und dass es an ihm lag, einen möglichst
großen Teil selbst in die Hände zu nehmen. Die zweite Entscheidung
stellte ihn vor kaum größere Anforderungen. Und als seine Eltern
ihm – ein wenig verlegen, seine Mutter sogar
beschämt – ihre Absicht mitteilten, sich scheiden zu lassen,
drückte er sein Bedauern aus – das erschien ihm nur
angemessen –, um sie dann auf subtilste Weise zu ermutigen,
den Schlussstrich unter eine Ehe zu ziehen, die sie ganz offensichtlich
alle drei unglücklich gemacht hatte. Schulferien, die nicht ständig von
schmollenden Gesichtern oder Hasstiraden gestört waren, schienen ihm
eine durchaus erfreuliche Perspektive zu sein. Als sie während einer
Urlaubsreise – einem von mehreren Versuchen einer Versöhnung
und eines Neuanfangs – bei einem Verkehrsunfall ums Leben
kamen, fürchtete er einen Augenblick lang, das von ihm in Abrede
gestellte höhere Wesen könnte womöglich doch existieren –
weniger barmherzig, dafür von sardonischem Humor beseelt –,
aber er machte sich schnell klar, wie töricht es wäre, einen
barmherzigen Aberglauben aufzugeben, um sich einen viel unbequemeren,
vielleicht sogar bösartigen dafür einzuhandeln. Die dritte seiner
Entscheidungen blieb ihm als Ehrgeiz und Auftrag: Er würde sich auf die
handfesten Tatsachen der Wissenschaft verlassen und Chirurg werden.
Außer Schulden hatten seine Eltern ihm nicht viel
hinterlassen. Aber das war auch egal. Er hatte von jeher den größten
Teil der Sommerferien bei seinem verwitweten Großvater in Bournemouth
verbracht, und dort fand er jetzt sein Zuhause. Soweit es ihm überhaupt
möglich war, einen Menschen zu lieben, war Herbert Chandler-Powell
dieser Mensch. Er hätte den alten Mann auch gemocht, wenn er arm
gewesen wäre, aber es traf sich umso besser, dass er reich war. Er
hatte ein Vermögen mit seinem Talent gemacht, elegante und originelle
Pappschachteln zu entwerfen. Viele Firmen hatten es sich zur
Prestigeangelegenheit
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