Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
erwarten
waren.
Mr. Westhall war eine Überraschung. Er war zart gebaut, mit
hoher Stirn und einer feinen Physiognomie, eher das Gesicht eines
Dichters oder Akademikers als das eines Chirurgen. Von der Kraft und
dem Selbstbewusstsein, die Mr. Chandler-Powell ausgestrahlt hatte, war
bei ihm nichts zu spüren. Sein Lächeln war wärmer als das der Frauen,
sein Händedruck jedoch kalt, trotz des wärmenden Kaminfeuers.
Helena Cressett sagte: »Sie können sicher einen Tee oder etwas
Stärkeres gebrauchen. Wollen Sie ihn hier zu sich nehmen, oder lieber
auf Ihrem Zimmer? Auf jeden Fall bringe ich Sie jetzt erst einmal
hinauf, damit Sie sich einrichten können.«
Rhoda zog es vor, den Tee auf ihrem Zimmer zu trinken. Sie
stiegen nebeneinander die breiten, läuferlosen Treppenstufen hinauf und
gingen einen Flur entlang, an dessen Wänden Landkarten und alte
Ansichten des Manor hingen. Rhodas Koffer stand vor einer Tür ungefähr
in der Mitte des Patientenflurs. Miss Cressett nahm ihn, öffnete die
Tür und trat zur Seite, um Rhoda den Vortritt zu lassen. Miss Cressett
zeigte ihr die beiden ihr zugewiesenen Zimmer wie ein Hotelier, der in
knappen Worten auf die Annehmlichkeiten einer Suite hinweist, eine
routinemäßige Prozedur, zu oft schon wiederholt, um mehr als eine
Pflicht zu sein.
Rhoda fand das Wohnzimmer gut proportioniert und schön
eingerichtet, ganz offensichtlich mit echten Stilmöbeln, die meisten im
georgianischen Stil. Das Schreibpult aus Mahagoni hatte eine angenehm
große Schreibfläche. Die einzigen modernen Möbelstücke waren die zwei
Ohrensessel vor dem Kamin und eine große, angewinkelte Leselampe neben
einem von ihnen. Links von der Feuerstelle stand ein modernes
Fernsehgerät und im Regal darunter ein DVD-Player, eine unpassende,
aber wohl unverzichtbare Ergänzung zu einem Zimmer, das Charakter haben
und komfortabel sein sollte.
Sie gingen nach nebenan. Dieselbe Eleganz, jeder Hinweis auf
ein Krankenzimmer war mit Bedacht vermieden. Miss Cressett stellte den
Koffer auf einem klappbaren Ständer ab, ging hinüber zum Fenster und
zog die Vorhänge zu. »Es ist schon zu dunkel, um noch etwas zu sehen«,
sagte sie, »aber morgen früh haben Sie einen herrlichen Ausblick. Dann
sehen wir uns wieder. Falls Sie alles haben, was Sie brauchen, lasse
ich Ihnen jetzt den Tee und die Speisekarte für das Frühstück
heraufbringen. Wenn Sie lieber unten zu Abend essen wollen statt allein
hier oben, um acht wird im Speisezimmer serviert, aber wir kommen schon
um halb acht auf einen Aperitif in der Bibliothek zusammen. Wenn Sie
dazukommen möchten, rufen Sie mich kurz an – die
Durchwahlnummern finden Sie auf der Karte neben dem Telefon. Es kommt
dann jemand herauf, um Sie zu holen.« Damit war sie verschwunden.
Für diesen Tag hatte Rhoda genug von Cheverell Manor gesehen,
und es fehlte ihr an Unternehmungslust, um sich in das Hin und Her
einer Tischkonversation zu stürzen. Sie würde sich das Abendessen auf
das Zimmer bringen lassen und früh zu Bett gehen. Langsam ergriff sie
Besitz von einem Zimmer, in das sie, das wusste sie schon jetzt, in gut
zwei Wochen furchtlos und ohne böse Vorahnungen zurückkehren würde.
6
A m selben Dienstag um zwanzig vor sieben
hatte George Chandler-Powell die Liste seiner Privatpatienten im St.
Angela's Hospital endlich abgearbeitet. Paradoxerweise fühlte er sich
erschöpft und ruhelos zugleich, als er den Operationskittel auszog. Er
hatte den Tag früh begonnen und ohne Pause durchgearbeitet, was
ungewöhnlich war, aber nur so schaffte er seine Londoner
Privatpatienten, bevor er zu seinem alljährlichen Weihnachtsurlaub nach
New York aufbrach. Seit der Kindheit war ihm die Weihnachtszeit ein
Graus, und er verbrachte sie nie in England. Seine Exfrau, inzwischen
mit einem amerikanischen Investor verheiratet, der ihr problemlos den
Standard bieten konnte, den sie beide als angemessen für eine Frau von
ihrer Schönheit erachteten, hatte dezidierte Ansichten darüber, dass
alle Scheidungen notwendigerweise ›gesittet‹ ablaufen mussten, wie sie
es bezeichnete. Chandler-Powell hegte den Verdacht, dass ihr Ausdruck
lediglich eine großzügige, im Gegensatz zu einer weniger großzügigen
Abfindung bezeichnete, aber die Absicherung ihres Lebens in den USA
versetzte sie in die Lage, die eher profane Freude an pekuniärem
Zugewinn durch den äußerlichen Anschein von Großzügigkeit zu ersetzen.
Und so hatten sie jetzt beide ihren Spaß daran, sich einmal im Jahr zu
sehen
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