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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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einer halben Stunde?«
    »Ja, wunderbar.«
    »Und Sie gehen vor dem Essen nicht mehr hinaus, Sir?«
    Aus seinem Ton war leise Befürchtung herauszuhören.
Chandler-Powell meinte den Grund zu kennen und sagte: »Na, was habt ihr
euch denn Schönes für mich ausgedacht, Sie und Kimberley?«
    »Wir dachten an ein Käsesoufflé, Sir, und Bœuf Stroganoff.«
    »Aha. Der erste Gang verlangt, dass ich hier sitze und darauf
warte, und der zweite ist schnell zubereitet. Nein, Dean, ich gehe
nicht mehr nach draußen.«
    Das Essen war wie immer ausgezeichnet. Er freute sich immer
besonders darauf, wenn am Abend Ruhe im Haus eingekehrt war. An den
Operationstagen, wenn er zusammen mit seinen Kollegen und dem
Pflegepersonal speiste, nahm er kaum wahr, was auf dem Teller lag. Nach
dem Abendessen setzte er sich noch eine halbe Stunde neben den
Bibliothekskamin, um zu lesen, dann nahm er sein Jackett und eine
Taschenlampe, ging zur Tür des Westflügels, schob den Riegel zurück,
drehte den Schlüssel im Schloss und spazierte in der sternenfunkelnden
Dunkelheit die Lindenallee entlang zum bleichen Kreis der
Cheverell-Steine.
    Eine niedrige Mauer, mehr Grenzmarkierung als Barriere,
trennte das Grundstück des Manor von dem Steinkreis, und er schwang
sich problemlos darüber. Wie immer in der Dunkelheit schien der Kreis
aus zwölf Steinen bleicher zu werden, sogar etwas vom Glanz des
Mondlichts und der Sterne anzunehmen. Bei Tageslicht waren es ganz
normale Steinklötze von unterschiedlicher Größe und Form, nicht viel
anders als jeder Felsbrocken, den man in den Bergen fand; die einzige
Besonderheit war eine stark gefärbte Flechte, die sich durch die
Furchen zog. Ein Hinweisschild an der Hütte neben dem Parkplatz verbot
Besuchern, sich auf die Steine zu stellen oder sie zu beschädigen, und
wies darauf hin, dass die Flechte sowohl alt als auch interessant war
und nicht angefasst werden durfte. Auch der größte Stein, der wie ein
böses Omen in der Mitte des Kreises stand, löste in Chandler Powell
keine größeren Gefühle aus, als er sich jetzt dem Kreis näherte. Er
dachte kurz an die Frau, die 1654 an diesen Stein gefesselt und als
Hexe bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Und weshalb? Wegen einer
zu scharfen Zunge, Wahnvorstellungen, geistiger Extravaganz, aus
privater Rachsucht oder dem Bedarf an einem Sündenbock in Zeiten der
Seuchen und Missernten oder einem Opfer, das einen ungenannten bösen
Gott milde stimmen sollte? Nur kurz erfasste ihn ein vages Mitgefühl,
nicht stark genug, um auch nur einen Anflug von Bedrücktheit
hervorzurufen. Sie war eine von Millionen gewesen, die im Lauf der
Jahrhunderte der Dummheit und Grausamkeit der Menschen zum Opfer
gefallen waren. Er bekam in dieser Welt genug Leid zu sehen und
verspürte keinerlei Bedürfnis nach mehr.
    Er hatte seinen Spaziergang jenseits des Kreises fortsetzen
wollen, beschloss aber jetzt, die Übung hier abzubrechen, setzte sich
auf den niedrigsten Stein und blickte die Lindenallee entlang auf den
Westflügel des Manor, der im Dunkeln lag. Er saß ganz still, lauschte
aufmerksam den Geräuschen der Nacht, dem leisen Rauschen im hohen Gras
am Rand der Steine, dem fernen Schrei einer Kreatur, die sich ein Jäger
zur Beute gemacht hatte, dem Rascheln trockener Blätter, als der Wind
kurz auffrischte. Die Sorgen, Unbilden und kleinen Ärgernisse des
langen Arbeitstages fielen von ihm ab. Hier saß er an einem vertrauten
Ort, so still, dass selbst sein Atmen mehr war als die ungehörte, sanft
rhythmische Bestätigung des Lebens.
    Die Zeit verging. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest,
dass er seit einer Dreiviertelstunde hier saß. Er war durchgefroren,
und der harte Stein wurde unbequem. Um die verkrampften Beine zu
bewegen, kletterte er über die Mauer und ging die Lindenallee zurück.
In der Mitte des Patientengeschosses leuchtete plötzlich ein Licht auf,
das Fenster öffnete sich, und der Kopf einer Frau erschien. Sie stand
reglos da und blickte in die Nacht hinaus. Instinktiv blieb er stehen
und schaute zu ihr hinüber, beide so bewegungslos, dass er einen Moment
lang glaubte, sie könne ihn sehen und eine Art Kommunikation habe
zwischen ihnen begonnen. Ihm fiel ein, wer die Frau war, Rhoda Gradwyn,
die zu ihrem Vorbereitungsbesuch ins Manor gekommen war. Bei allen
Untersuchungen und peniblen Notizen vor der Operation blieben ihm nur
wenige Patienten in Erinnerung. Die Narbe auf ihrer Wange hätte er
beschreiben können, aber außer einem Satz war ihm

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