Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
nicht
bleiben. Vielleicht sollte ich Ihnen gleich sagen, dass ich nächste
Woche drei Tage lang weg bin. Ich fliege nach Toronto, um eine Art
Rente für Grace Holmes einzurichten, die Krankenschwester, die mir mit
Vater geholfen hat.«
Marcus ging also weg. Da hatte er also endlich eine
Entscheidung getroffen. Der Verlust würde George schwer treffen, aber
Marcus war nicht unersetzbar. »Wir wüssten gar nicht, wie wir ohne Sie
zurechtkommen sollten. Ich wäre sehr froh, wenn Sie bleiben, wenigstens
noch eine Weile. Und ich weiß, dass Lettie auch so denkt. Sie machen
also Schluss mit der Uni?«
»Die Universität macht Schluss mit mir. Es fehlt an Studenten,
um den Fachbereich Altphilologie offenzuhalten. Ich habe das schon
lange kommen sehen. Letztes Jahr haben sie den Fachbereich Physik
geschlossen, um die Forensischen Wissenschaften zu erweitern, und jetzt
schließen sie die Altphilologie und machen die Theologie zur
Komparativen Religionswissenschaft. Und sollte sich auch das als zu
schwierig erweisen – was bei den spärlichen Neuzugängen gar
nicht ausbleiben kann –, dann machen sie aus der Komparativen
Religionswissenschaft eben Religions- und Medienforschung oder
Forensische Religionswissenschaften. Unsere Regierenden sind
Traumtänzer, wenn sie als Ziel formulieren, dass fünfzig Prozent aller
jungen Leute zur Universität gehen, und gleichzeitig dafür sorgen, dass
vierzig Prozent der Absolventen höherer Schulen ohne Ausbildung
bleiben. Aber ich will mich hier nicht über die höhere Bildung
auslassen. Ich habe die Nase voll davon.«
Sie hat ihren Job verloren, dachte Helena, jetzt verliert sie auch noch ihren Bruder; als einzige
Perspektive bleibt ihr ein halbes Jahr im Manor, und klare
Vorstellungen, wie es weitergehen soll, scheint sie nicht zu haben. Beim
Anblick von Candace' Profil wallte Mitleid in ihr auf. So vorübergehend
das Gefühl war, so erstaunlich war es. Sie konnte sich nicht
vorstellen, einmal in Candace' Lage zu kommen. Der Grund für die Misere
war dieser grauenhafte alte Despot, der sich zwei Jahre Zeit mit dem
Sterben gelassen hatte. Warum konnte sich Candace nicht von ihm
befreien? Sie hatte ihn gepflegt wie eine viktorianische
Krankenschwester, aber es war keine Liebe dabei gewesen. Das hätte
sogar ein Blinder erkannt. Helena war dem Cottage nach Möglichkeit
ferngeblieben, wie der größte Teil des Personals, aber durch Klatsch,
Andeutungen und Aufgeschnapptes war trotzdem bekannt geworden, was dort
vor sich ging. Der Alte hatte seine Tochter verachtet, ihr
Selbstvertrauen als Frau und Wissenschaftlerin zerstört. Warum hatte
sie sich bei ihren Fähigkeiten nicht an einer der renommierten
Universitäten um eine Stelle bemüht, statt an einer vom unteren Ende
der Rangliste? War ihr von dem alten Tyrannen eingeimpft worden, dass
es bei ihr zu nichts Besserem reichte? Und außerdem hatte er mehr
Pflege beansprucht, als sie leisten konnte, trotz der Hilfe der
Gemeindeschwester. Warum hatte sie ihn nicht in ein Pflegeheim
gesteckt? In dem Heim in Bournemouth, wo sein Vater gepflegt worden
war, war er nicht glücklich gewesen, aber es hätte andere gegeben, und
es fehlte der Familie nicht an Geld. Man erzählte sich, dass der alte
Mann von seinem Vater, der nur ein paar Wochen vor ihm gestorben war,
an die acht Millionen Pfund vererbt bekommen hatte. Inzwischen war das
Testament vollstreckt, Marcus und Candace waren reich.
Fünf Minuten später war Candace wieder fort, und Helena dachte
über das Gespräch nach. Etwas hatte sie Candace verschwiegen.
Wahrscheinlich war es nicht besonders wichtig, aber es wäre womöglich
ein zusätzlicher Quell des Ärgers gewesen. Zumindest hätte es Candace'
Laune nicht gebessert, wenn sie erfahren hätte, dass Robin Boyton sich
auch für den Tag vor Miss Gradwyns Operation und die Woche ihrer
Rekonvaleszenz im Rose Cottage eingemietet hatte.
13
A m Freitag, dem 14. Dezember, die Operation
an Rhoda Gradwyns Gesicht war zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen,
saß George Chandler-Powell gegen acht Uhr abends in seinem privaten
Wohnzimmer im Ostflügel. Am Ende eines Operationstags suchte er gerne
die Stille des Alleinseins, und auch wenn er heute nur eine einzige
Patientin hatte, war die Behandlung ihrer Narbe komplizierter und
zeitaufwendiger als erwartet gewesen. Um sieben hatte Kimberley ihm ein
leichtes Abendessen gebracht, und kurz vor acht waren alle Spuren der
Mahlzeit verschwunden und der kleine Speisetisch zusammengeklappt. Er
durfte
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