Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
aber jetzt verspürte er zum ersten Mal einen leisen Stich
der Furcht, ein Gefühl, dass etwas Unberechenbares und potenziell
Gefährliches in seine Welt eingedrungen war. Ein geradezu
abergläubischer Gedanke, zu unsinnig, um ihn ernsthaft zu erwägen, und
so schob er ihn beiseite. Aber es war schon seltsam, dass Candace,
hochintelligent und normalerweise so vernünftig, dieses Schreckensbild
von Rhoda Gradwyn an die Wand malte. Wusste sie etwas über die Frau,
das er nicht wusste, etwas, das sie ihm verheimlichte? Er beschloss,
nicht nach Mogworthy zu suchen, sondern ging gleich zurück ins Manor
und zog die Tür fest hinter sich ins Schloss.
12
H elena wusste von Chandler-Powells Besuch im
Stone Cottage und wunderte sich nicht, als Candace Westhall zwanzig
Minuten nach seiner Rückkehr im Büro erschien.
Ohne Einleitung sagte Candace: »Ich möchte etwas mit Ihnen
besprechen. Eigentlich zwei Dinge. Rhoda Gradwyn. Ich habe sie gestern
ankommen sehen – zumindest habe ich den BMW vorbeifahren
sehen, und ich vermute, dass es ihrer war. Wann reist sie wieder ab?«
»Heute jedenfalls nicht. Sie hat eine zweite Nacht gebucht.«
»Und Sie haben eingewilligt?«
»Ich konnte schlecht nein sagen ohne eine Erklärung, und es
gibt keine. Das Zimmer ist frei. Ich habe George angerufen, und er
hatte keine Einwände.«
»Warum auch. Ein Tag mehr, an dem Geld reinkommt, und er muss
keinen Finger rühren.«
Helena sagte: »Wir beide doch wohl auch nicht.«
Sie sprach ohne Ressentiments. Ihrer Meinung nach handelte
Chandler-Powell vernünftig. Aber bei Gelegenheit wollte sie mit ihm
über die Gäste reden, die nur für eine Nacht kamen. War es wirklich so
wichtig, sich im Vorhinein einen Eindruck von der Einrichtung zu
verschaffen? Wenn es nach ihr ging, sollte das Manor nicht zu einer
Bed-and-Breakfast-Pension verkommen. Aber vielleicht war es klüger, die
Sache nicht anzusprechen. Es hatte ihm immer sehr am Herzen gelegen,
dass die Patienten vorher wussten, wo sie sich operieren ließen. Er
würde sich jede Einmischung in die Leitung der Klinik verbitten. Ohne
dass sie die Grenzen je abgesteckt hätten, kannte jeder seinen Platz.
Er mischte sich grundsätzlich nicht in die Hausverwaltung des Manor
ein, sie sich nicht in die Angelegenheiten der Klinik.
»Und dann kommt sie noch mal zur Operation wieder?«, fragte
Candace.
»Vermutlich, in gut zwei Wochen.« Es herrschte Schweigen.
»Warum echauffieren Sie sich so darüber? Sie ist eine Patientin wie
jede andere. Sie hat für eine Woche Rekonvaleszenz im Anschluss an die
Operation gebucht, aber ich denke nicht, dass sie so lange bleibt,
nicht im Dezember. Sie will sicher in die Stadt zurück. Wie auch immer,
ich wüsste nicht, weshalb sie mehr Ärger machen sollte als andere
Patienten. Eher weniger.«
»Kommt darauf an, was Sie unter Ärger verstehen. Die Frau ist
eine knallharte Enthüllungsjournalistin. Ständig am Schnüffeln nach
neuen Storys. Wenn sie Material für einen neuen Artikel sucht, findet
sie auch etwas, selbst wenn es nur für einen Hetzartikel über die
Eitelkeit und Dummheit einiger unserer Patientinnen reicht. Immerhin
garantiert man ihnen hier Diskretion und Sicherheit. Wie wollen Sie
Diskretion garantieren, wenn Sie eine Journalistin im Haus haben, und
dann noch eine von der Sorte?«
»Außer ihr wohnt nur noch Mrs. Skeffington hier, sie wird also
aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein Beispiel für Eitelkeit und
Dummheit finden, über das sie schreiben könnte.« Sie dachte: Da
steckt doch mehr dahinter. Warum sorgt sie sich so um das Wohlergehen
einer Klinik, die ihr Bruder ohnehin verlassen will? »Es
steckt doch etwas Persönliches dahinter, stimmt's?«, sagte sie. »Es
klingt jedenfalls so.«
Candace wandte sich ab. Helena bedauerte den Impuls, der sie
zu dieser Frage veranlasst hatte. Eigentlich waren sie ein gutes Team,
respektierten sich gegenseitig, zumindest beruflich. Es war nicht der
rechte Augenblick für einen Vorstoß auf ein persönliches Terrain,
das – genau wie bei ihr selbst – mit einem
Verbotsschild abgesperrt war.
Nach erneutem Schweigen sagte Helena: »Sie sprachen von zwei
Dingen.«
»Ich habe George gebeten, noch ein halbes, vielleicht ein
ganzes Jahr bleiben zu dürfen. Ich würde Ihnen weiter mit den Büchern
und der Büroarbeit zur Hand gehen, wenn Sie denken, dass es Ihnen
nützt. Natürlich zahle ich eine ordentliche Miete, sobald Marcus fort
ist. Aber wenn es Ihnen nicht recht ist, möchte ich lieber
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