Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Konturen, möglich, dass gnadenlose
Augen auf sie herabblickten, sie sah nur einen schwarzen Schlitz. Sie
hörte Worte, leise gesprochen, die sie nicht verstand. Mühsam hob sie
den Kopf aus den Kissen, versuchte krächzend zu protestieren. Sofort
war die Zeit ausgesetzt, im Strudel ihrer Panik nahm sie nur noch einen
Geruch wahr, den schwachen Geruch nach gestärktem Leinen. Aus der
Dunkelheit erschien das Gesicht ihres Vaters. Aber nicht so, wie sie es
nach über dreißig Jahren in Erinnerung hatte, es war das Gesicht, das
sie in frühester Kindheit nur für kurze Zeit gekannt hatte, jung und
glücklich, über ihr Bett gebeugt. Sie hob den Arm, um auf die Kompresse
zu zeigen, aber die Hand war zu schwer und fiel zurück. Sie versuchte
zu sprechen, sich zu bewegen. »Sieh mal«, wollte sie sagen, »ich bin
sie los.« Ihre Glieder fühlten sich an wie in Eisen geschlagen, aber
jetzt schaffte sie es, zitternd die rechte Hand zu heben und die
Kompresse über der Narbe zu berühren.
Sie wusste, dass es der Tod war, und mit diesem Wissen kam ein
unerwarteter Friede, eine Erlösung über sie. Und dann schloss sich die
kräftige Hand, hautlos, unmenschlich, um ihre Kehle, drückte ihr den
Kopf nach hinten in die Kissen, und die Erscheinung warf ihr ganzes
Gewicht auf sie. Sie wollte im Angesicht des Todes die Augen nicht
schließen und wehrte sich nicht. Die Dunkelheit des Raums verdichtete
sich zu einer letzten Schwärze, in der alles Gefühl erlosch.
16
U m zwölf Minuten nach sieben wurde Kimberley
in der Küche unruhig. Von Schwester Holland wusste sie, dass Miss
Gradwyn das Tablett mit dem Morgentee für sieben Uhr bestellt hatte.
Das war früher als an ihrem ersten Morgen im Manor, aber die Schwester
hatte Kim aufgetragen, es um sieben Uhr fertig zu haben, und sie hatte
das Tablett um Viertel vor sieben hergerichtet und die Teekanne zum
Aufwärmen auf den eisernen Herd gestellt.
Jetzt war es zwölf nach sieben, und immer noch war kein Anruf
gekommen. Kim wusste, dass Dean ihre Hilfe beim Frühstück brauchte,
gerade heute gab es unerwartete Probleme. Mr. Chandler-Powell hatte
darum gebeten, ihm das Frühstück in seiner Wohnung zu servieren, was
ungewöhnlich war, und Miss Cressett, die sich normalerweise alles, was
sie brauchte, in ihrer eigenen kleinen Küche zubereitete und fast nie
warm frühstückte, hatte telefonisch mitgeteilt, sie gedenke um halb
acht zusammen mit dem Personal im Speisesaal zu frühstücken, und bei
der Gelegenheit außerordentlich präzise Wünsche geäußert, was die
Knusprigkeit des Specks und die Frische der Eier betraf – als
wäre im Manor jemals ein Ei auf den Tisch gekommen, das nicht frisch
war und von freilaufenden Hühnern stammte, dachte Kim, und das wusste
Miss Cressett so gut wie sie. Ein zusätzliches Ärgernis war das
Ausbleiben Sharons gewesen, deren Aufgabe es war, den Frühstückstisch
zu decken und die Warmhalteplatten anzudrehen, aber wenn sie jetzt
hinauflief, um sie aus dem Bett zu werfen, zog Miss Gradwyn womöglich
gerade an der Klingelschnur.
Nachdem sie noch einmal die exakte Anordnung von Tasse,
Untertasse und Milchkännchen auf dem Tablett überprüft hatte, sagte sie
zu Dean, das Gesicht fleckig vor Aufregung: »Vielleicht sollte ich es
einfach raufbringen. Die Schwester hat gesagt um sieben. Vielleicht hat
sie gemeint, dass Miss Gradwyn es um Punkt sieben erwartet und ich gar
nicht auf die Klingel warten soll.«
Immer wenn sie dieses ängstliche Kleinmädchengesicht hatte,
meldete sich in Dean ein Gefühlsgemenge aus Liebe und Mitleid,
unterlegt mit leisem Ärger. Er ging zum Telefon. »Schwester, hier ist
Dean. Miss Gradwyn hat noch nicht nach ihrem Tee geklingelt. Sollen wir
noch warten, oder soll Kim ihn jetzt aufgießen und ihr hochbringen?«
Das Gespräch dauerte keine Minute. Dean legte den Hörer auf
und sagte: »Du sollst ihn nach oben bringen. Bevor du zu ihr reingehst,
sollst du bei der Schwester klopfen. Sie will ihn Miss Gradwyn selber
ans Bett bringen.«
»Wahrscheinlich will sie wieder Darjeeling, wie beim letzten
Mal, und die Kekse. Die Schwester hat nichts anderes gesagt.«
Dean, der am Herd stand und Eier briet, erwiderte kurz: »Wenn
sie die Kekse nicht will, lässt sie sie eben stehen.«
Bald kochte das Wasser, und nach ein paar Minuten war der Tee
fertig. Wie immer begleitete Dean sie zum Lift, hielt ihr die Tür auf
und drückte auf den Knopf, weil sie mit dem Tablett keine Hand frei
hatte. Als sie aus dem Lift trat, kam
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