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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Rhoda Gradwyn langsam
aus der Narkose erwacht. Als sie die Augen aufschlug, sah sie als
Erstes einen kleinen Kreis. Er hing direkt vor ihr in der Luft wie ein
schwebender Vollmond. Ihr Verstand, verwirrt, aber gebannt, versuchte
sich einen Reim darauf zu machen. Der Mond kann es nicht sein, dachte
sie. Zu fest und bewegungslos. Der Kreis wurde schärfer, und sie
erkannte eine Wanduhr mit hölzernem Rahmen und einem schmalen inneren
Messingring. Obwohl Zeiger und Ziffern deutlicher wurden, ließ die
Tageszeit sich nicht ablesen; da es ohnehin egal war, gab sie den
Versuch auf. Ihr wurde bewusst, dass sie in einem fremden Zimmer im
Bett lag und dass andere um sie herum waren, die sich wie blasse
Schatten auf leisen Sohlen bewegten. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie
wollte sich ihre Narbe entfernen lassen, wahrscheinlich war sie schon
für die Operation fertiggemacht worden. Sie fragte sich, wann es so
weit sein würde.
    Jetzt erst merkte sie, dass mit ihrer linken Gesichtshälfte
etwas geschehen war. Sie spürte ein Brennen, ein schmerzendes Gewicht,
wie von einem dicken Pflaster. Es reichte über den Rand ihres Munds und
zog den linken Augenwinkel herunter. Sie hob versuchsweise die Hand,
nicht sicher, ob sie die Kraft zu der Bewegung hatte, und berührte
leicht ihr Gesicht. Da war keine linke Wange mehr. Mit den Fingern
ertastete sie eine feste Masse, ein bisschen rau und kreuz und quer mit
etwas beklebt, das sich wie Heftpflaster anfühlte. Jemand drückte ihr
sanft den Arm nach unten, dann sagte eine beruhigend vertraute Stimme:
»Sie sollten die Kompresse noch eine Weile in Ruhe lassen.« Sie
begriff, dass sie im Aufwachraum war, und die beiden Gestalten, die
langsam Konturen annahmen, Mr. Chandler-Powell und Schwester Holland
sein mussten.
    Sie hob den Blick und versuchte, trotz der Behinderung durch
den Verband Worte zu formen. »Wie ist es gegangen? Sind Sie zufrieden?«
    Es klang wie ein Krächzen, aber Mr. Chandler-Powell schien sie
verstanden zu haben. Sie hörte seine Stimme, gelassen, ernsthaft,
beruhigend. »Sehr zufrieden. Und das werden Sie hoffentlich auch bald
sein. Jetzt müssen Sie sich hier noch eine Weile ausruhen, dann bringt
die Schwester Sie hinauf in Ihr Zimmer.«
    Sie lag bewegungslos, während die Dinge um sie herum Gestalt
annahmen. Wie lange die Operation wohl gedauert hatte? Eine, zwei oder
drei Stunden? Egal wie lange, sie hatte die Zeit in einer Art Scheintod
verloren, dem Tod so ähnlich, wie ihn sich ein Mensch nur vorstellen
konnte, eine völlige Aufhebung der Zeit. Sie dachte über den
Unterschied zwischen zeitweiligem Tod und Schlaf nach. Wenn man aus
einem Schlaf erwachte, sei er noch so tief gewesen, wusste man, dass
Zeit vergangen war. Die Gedanken versuchten nach Resten des Traums vor
dem Erwachen zu greifen, bevor sie jenseits der Erinnerung versanken.
Sie prüfte ihr Gedächtnis, durchlebte noch einmal den letzten Tag. Sie
saß im trommelnden Regen in ihrem Auto, dann traf sie im Manor ein,
betrat zum ersten Mal den Großen Saal, packte in ihrem Zimmer den
Koffer aus, unterhielt sich mit Sharon. Aber das alles war natürlich
vor über zwei Wochen passiert, bei ihrem ersten Besuch. Langsam kehrte
die jüngste Vergangenheit zurück. Gestern war alles anders gewesen,
eine angenehme, unkomplizierte Fahrt, winterliches Sonnenlicht,
unterbrochen von plötzlichen kurzen Regenschauern. Und diesmal hatte
sie ein paar geduldig erfragte Informationen mit ins Manor gebracht;
sie konnte davon Gebrauch machen oder es lassen. In diesem Moment
wohliger Schläfrigkeit gedachte sie es zu lassen, wie sie auch ihre
eigene Vergangenheit hinter sich ließ. Man konnte sie kein zweites Mal
leben, nichts daran ließ sich mehr verändern. Sie hatte ihr Schlimmes
angetan, aber bald wäre ihre Macht gebrochen.
    Sie schloss die Augen, trieb hinüber in den Schlaf, in
Gedanken bei der friedlichen Nacht, die vor ihr lag, und dem nächsten
Morgen, den sie nicht mehr erleben würde.

15
    S ieben Stunden später, wieder in ihrem
Zimmer, regte sich Rhoda in schläfrigem Erwachen. Einige Augenblicke
lang, in der kurzen Verwirrung, die das plötzliche Erwachen aus tiefem
Schlaf bewirkt, lag sie ganz still und reglos. Sie war sich der
Behaglichkeit des Bettes, des Gewichts ihres Kopfes auf den erhöhten
Kissen, des Geruchs der Luft bewusst – anders als in ihrem
Londoner Schlafzimmer –, frisch, aber etwas stechend, eher
herbstlich als winterlich, ein Geruch nach Erde und Gras, von einem
unruhigen Wind

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