Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
angehaltener
Luft hatte seine Stimme den Ton eines bockigen Kindes.
»Natürlich gehöre ich nicht dazu. Bis gerade eben war ich ja
hier nicht drin. Der Polizist an der Tür wollte mich nicht
vorbeilassen.«
»Auf meine Anweisung hin«, sagte Dalgliesh.
Chandler-Powell fügte hinzu: »Und davor auf meine. Miss
Gradwyn wollte absolut ungestört bleiben. Es tut mir leid, dass wir
Ihnen so viel Kummer machen, Mr. Boyton, aber ich fürchte, ich war so
mit den Polizeibeamten und der Pathologin beschäftigt, dass ich nicht
daran gedacht habe, dass Sie im Cottage zu Gast sind. Haben Sie schon
gegessen? Dean und Kimberley könnten Ihnen etwas machen.«
»Natürlich habe ich nicht gegessen. Als hätte ich im Rose
Cottage jemals etwas zu essen bekommen. Ich verzichte auf Ihren Fraß.
Spielen Sie nicht den guten Onkel.«
Er hatte sich aufgerichtet, den Arm ausgestreckt, und zeigte
mit zitterndem Finger auf Chandler-Powell, aber als er zu merken
schien, wie lächerlich diese Theatralik in Verbindung mit seiner
Aufmachung wirkte, ließ er den Arm fallen, und sein Blick schweifte in
stummer Verzweiflung über die versammelten Gesichter.
Dalgliesh sagte: »Mr. Boyton, da Sie ein Freund von Miss
Gradwyn waren, haben Sie möglicherweise wichtige Aussagen zu machen,
aber nicht jetzt.«
Die leise gesprochenen Worte waren ein Befehl. Boyton ließ die
Schultern hängen und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch
einmal um und sprach Chandler-Powell direkt an: »Sie ist hergekommen,
um sich die Narbe entfernen zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen.
Sie hat Ihnen vertraut, und Sie haben sie getötet, Sie dreckiger
Mörder!«
Ohne auf eine Reaktion zu warten, lief er hinaus. DC Warren,
der die ganze Zeit über mit unergründlicher Miene dagestanden hatte,
ging ihm nach und schlug die Tür fest hinter sich zu. Es folgten fünf
Sekunden Schweigen, und Benton meinte zu spüren, dass die Stimmung sich
verändert hatte. Jemand hatte das Wort ausgesprochen. Das Unglaubliche,
das Groteske, das Entsetzliche war endlich zur Kenntnis genommen worden.
»Können wir weitermachen?«, fragte Dalgliesh. »Miss Cressett,
Sie haben Miss Gradwyn an der Tür in Empfang genommen, fangen wir damit
an?«
Während der folgenden zwanzig Minuten wurden die Schilderungen
ohne Störung fortgesetzt, und Benton konnte sich auf seine Hieroglyphen
konzentrieren. Helena Cressett hatte die neue Patientin im Manor
willkommen geheißen und direkt auf ihr Zimmer gebracht. Da Miss Gradwyn
am nächsten Tag eine Vollnarkose bekommen würde, brachte man ihr kein
Abendessen, und sie hatte darum gebeten, allein gelassen zu werden. Die
Patientin hatte darauf bestanden, ihren Koffer eigenhändig in ihr
Schlafzimmer zu rollen, und sie packte ihre Bücher aus, als Miss
Cressett sie verließ. Am Freitag hatte sie natürlich erfahren, dass
Miss Gradwyn operiert und am frühen Abend aus dem Erholungsraum in ihre
Suite im Patientenflügel transportiert worden war. Das war der übliche
Ablauf der Dinge. Da sie nichts mit der Pflege der Patienten zu tun
hatte, besuchte sie Miss Gradwyn auch nicht in ihrer Suite. Sie aß mit
Schwester Holland, Miss Westhall und Mrs. Frensham im Speisesaal zu
Abend. Dabei erfuhr sie, dass Marcus Westhall zu einem Abendessen bei
einem Kollegen, mit dem zusammen er in Afrika zu arbeiten hoffte, nach
London gefahren war und dort auch die Nacht verbringen würde. Sie und
Miss Westhall arbeiteten bis kurz vor sieben im Büro, bis Dean in der
Bibliothek die Aperitifs servierte. Hinterher spielte sie in ihrer
privaten Suite mit Mrs. Frensham noch eine Partie Schach und unterhielt
sich mit ihr. Um Mitternacht lag sie im Bett und hörte nichts während
der Nacht. Am Samstag war sie bereits geduscht und angezogen, als Mr.
Chandler-Powell hereinkam und ihr mitteilte, dass Rhoda Gradwyn tot war.
Mit leiser Stimme bestätigte Mrs. Frensham diese Aussage; sie
hatte Miss Cressetts Wohnung um halb zwölf verlassen und war in ihre
eigene Wohnung im Ostflügel hinübergegangen, wo sie während der Nacht
nichts gesehen und gehört hatte. Sie wusste noch nichts von Miss
Gradwyns Tod, als sie gegen Viertel vor acht in den Speisesaal kam und
dort niemanden antraf. Später war dann Mr. Chandler-Powell gekommen und
hatte ihr die Kunde von Miss Gradwyns Tod gebracht.
Candace Westhall bestätigte, dass sie bis zum Abendessen
zusammen mit Miss Cressett im Büro gesessen hatte. Nach dem Abendessen
ging sie noch einmal zurück, um Papiere aufzuräumen, und verließ
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