Adelheid von Lare: Historischer Roman um die Stifterin des Klosters Walkenried (German Edition)
Folkmar nie körperlich arbeiten müssen. Die gepflegten Finger krümmten sich jetzt leicht, als wollten sie ihre Hand umschließen. Adelheid blickte auf und sah direkt in zwei blaue Augen, die sie nachdenklich betrachteten. Unwillkürlich hielt sie die Luft an und bevor sie denken konnte, war es heraus: „Ludwig?“
Dann schüttelte sie verblüfft den Kopf und murmelte: „Magdalena sieh genau hin! Es sind Ludwigs Augen!“
„Viele Menschen haben blaue Augen!“, kam die lakonische Antwort von der Zofe, die Folkmars Augen bereits öfter gesehen hatte.
Der Verletzte bewegte wieder die Lippen. Adelheid sprang auf und holte einen Becher mit Wasser. Vorsichtig flößte sie dem Mann das kühle Nass ein und er schloss zum Dank kurz die Augen. Dann lächelte er zaghaft und schlief erneut ein.
Magdalena lächelte ebenfalls. „Ich glaube, es geht allmählich bergauf.“ Ihre Worte klangen sehr vieldeutig und Adelheid sah sie fragend an. Doch die Miene der Zofe war bereits wieder verschlossen.
Zwei Tage später fand die Probe statt. Das bevorstehende Ereignis hatte sich schnell wie der Frühlingswind in der Gegend herumgesprochen und viele Zuschauer drängten sich auf dem Gelände um die Burg. Nach den langweiligen Wintermonden begrüßten die Leute jede Abwechslung. Und eine solche Mutprobe gab es nun wirklich nicht häufig zu sehen.
Am Haupttor neben dem Häuschen des Wächters hatte der Zimmermann mit seinem Gehilfen am Tag zuvor bereits eine Rampe aufgebaut, mit deren Hilfe Wetzel von Mülhusen sein Pferd auf die Mauer führen konnte. Sollte es ihm gelingen, die Mauern vollständig zu umreiten, dann hätten sie in kürzester Zeit die Rampe auf die andere Seite des Tores zu bringen, denn dort würde der glückliche Reiter ankommen und musste seinen ungewöhnlichen Pfad auch über das Holzgerüst wieder verlassen. An dieser Stelle der Burg hatte sich das Volk versammelt, denn hier würde es am meisten zu sehen bekommen.
Trotz der recht kurzen Vorbereitungszeit waren sogar Händler eingetroffen und boten ihre Waren feil. Ein Holzschnitzer verkaufte Pfeifen, mit denen Vogelgezwitscher täuschend echt imitiert werden konnte, ein weiterer handelte mit geheimnisvollen pulverisierten Wurzeln, deren Einnahme ein langes Leben und weitere Annehmlichkeiten versprach. Ein gutes Stück vor der Burg lagerten Zigeuner. Ihre Stammesmutter saß am Burggraben auf einem zerzausten Wolfspelz und las allen, die genug zahlen konnten, ihr Schicksal aus der Hand.
Um die Mittagszeit lief ein Raunen durch die Menge und die Volksfeststimmung wich einer feierlichen Ruhe. Das Haupttor ward geöffnet, damit die Leute draußen auch sehen konnten, was innen geschah. Im Nu drängten sich alle auf der Zugbrücke, die zwar breit genug für ein Fuhrwerk, aber zu schmal für die vielen Schaulustigen war. Die Wachen hatten alle Hände voll zu tun, die Menschen zurückzuhalten, denn sie befolgten den strengen Befehl, niemanden in die Burg hineinzulassen.
Die wenigen Glücklichen, die einen der vorderen Plätzen ergattert hatten und am besten sehen konnten, waren gern bereit, ihre Eindrücke weiterzugeben, indem sie nach hinten riefen, was geschah. Wetzel erschien an der Rampe und führte einen kräftigen Apfelschimmel mit breiter Brust, runder Kruppe und zottigem Fell über den Hufen am Zügel. Offensichtlich war er die Ruhe selbst, denn er ließ sich auch von den vielen schreienden Menschen hinter dem Torbogen nicht irritieren.
„Er reitet einen Schimmel! Ein stolzer Hengst!“, schrie ein kleiner dicker Bauer aus der ersten Reihe.
„Mal sehen, wie lange noch!“, echote es aus den hinteren Reihen und die Meute johlte. Seitdem sich herumgesprochen hatte, dass der Reiter Wetzel von Mülhusen war, wünschte niemand mehr, er möge es schaffen. Weder die abhängigen Bauern und schon gar nicht das laresche Gesinde wollten von einem verhassten Mülhuser regiert werden.
Wetzel selbst schien die Leute nicht wahrzunehmen. Ruhig überprüfte er jeden Riemen am Sattel und klopfte alle vier Hufeisen mit den Fingerknöcheln ab. Auch seine Kleidung erweckte den Eindruck, als wollte er nichts dem Zufall überlassen. Sein schwarzer, kurz gehaltener Mantel war mit einem rot gefütterten Kragen belegt, darunter leuchtete ein weißes Leinenhemd mit prächtigen Hohlsaumspitzen hervor. Besondere Kunstfertigkeit hatte der Schneider seiner Beinkleider bewiesen: Der schwarze Stoff war längs der Beine bis zu den Knien hinunter geschlitzt und mit rot leuchtender Seide
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