Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Handy entgegen, und die Stimme des alten Chirurgen erklang. Jack Jessup ist das Gegenteil von meinem Vater: arrogant, gierig, schroff Patienten gegenüber. Golf, Geld und gesellschaftliches Ansehen sind seine Hauptinteressen – jedenfalls die, die ich kenne. In den Augen seines Vaters muss Tim seit seinem Eintritt in die Highschool ein völliger Versager gewesen sein.
Dr. Jessup nannte mir keine Einzelheiten, sondern bat mich nur, in der nächsten halben Stunde im katholischen Pfarrhaus vorbeizuschauen. Ich nahm an, dass er mich auffordern werde, bei Tims Beisetzung ein paar Worte zu sagen. Ich wollte mich so bald wie möglich mit Caitlin treffen – sie hatte sich per SMS einverstanden erklärt, mich in ihrem Haus zu empfangen –, doch da die Kathedrale und das Pfarrhaus nur ein paar Blocks von unseren Wohnungen entfernt sind, erklärte ich mich bereit, mit dem Chirurgen zu reden.
Es ist fast dunkel, als ich vor der wuchtigen Masse der St. Mary’s Minor Basilica anhalte, einem Monument für die irischen Einwanderer, die im neunzehnten Jahrhundert nach Natchez kamen. Die Iren beherrschten die katholische Kirche im Ort; dazu kamen ein paar italienische Familien, die der Schuldknechtschaft flussaufwärts in Louisiana entkommen waren.
Das Pfarrhaus ist ein bescheidenes Gebäude aus den gleichen Ziegeln wie die Kathedrale. Ein langer grauer Mercedes parkt davor; dahinter steht ein älterer Lincoln Continental. Als ich mich der Tür nähere, wird sie aufgerissen, und eine Frau rennt an mir vorbei. Sie kommt mir bekannt vor: ergrauendes toupiertes Haar und dicke Schminke, die ein vor Wut und Kummer verzerrtes Gesicht verbirgt. Sie steigt in den Lincoln und rast mit kreischenden Reifen die Straße entlang.
Was ist hier los?
Pater Mullen ist ein neuer und junger Pfarrer. Ich bin ihm nur ein- oder zweimal auf öffentlichen Veranstaltungen begegnet. Er ist ein gebildeter Mann aus dem Mittleren Westen und scheint ein wenig verwirrt über die Südstaatenmentalität seiner neuen Herde zu sein. Wie er wohl Jack Jessup einschätzt, einen Modenarren, der früher tausend Dollar verlangte, um einen Leberfleck zu entfernen, den mein Vater für 75 Dollar weggeschnitten hätte?
Ich treffe Dr. Jessup und Pater Mullen im Büro des Pfarrers an. Der teure Nadelstreifenanzug des Chirurgen bildet einen scharfen Kontrast zu Mullens schwarzem Talar. An Jessups Haltung ist abzulesen, dass ihn etwas verärgert hat. Er beugt sich über den Schreibtisch des Pfarrers wie ein Marineoffizier über die Reling eines Schiffes, das sich in die Schlacht begibt.
Ich räuspere mich diskret. »Verzeihung …«
Der Chirurg dreht sich jäh um, doch seine Miene wird sanfter, als er mich erkennt. Er winkt mich heran, und wir schütteln uns die Hände.
Pater Mullen sieht aus, als würde er sich lieber das Fleisch in einem Kloster kasteien, statt sich mit Dr. Jessup in dessen gegenwärtigem Zustand auseinanderzusetzen. Der Chirurg ist in der Lage, härtere Männer als diesen Priester einzuschüchtern.
»Was kann ich für Sie tun, Dr. Jessup?«, frage ich.
Die geschlossenen Lippen des Arztes bewegen sich ein paar Sekunden lang, als werde er gezwungen, eine vierundzwanzig Stunden alte Zitronenscheibe zu kauen und hinunterzuschlucken. Schließlich beginnt er zu sprechen, doch seine Stimme ist fast erstickt vor Entrüstung.
»Haben Sie gesehen, wer gerade hinausgegangen ist?«
»Sie kam mir bekannt vor, aber sie lief zu schnell an mir vorbei.«
»Charlotte McQueen.«
Ich blinzle überrascht. Charlotte McQueen ist die Mutter eines Jungen, der starb, als Tim in seinen Studententagen auf einer Bierfahrt zur County-Grenze von der Straße abgekommen war. Und sie hatte den Staatsanwalt veranlasst, eine Gefängnisstrafe für Tim zu fordern. Mrs. McQueen ist ein einflussreiches Mitglied der katholischen Gemeinde, und sie war bestimmt nicht im Pfarrhaus, um ihr Beileid auszudrücken.
»Aha«, improvisiere ich. »Und wie kann ich Ihnen helfen, Doktor?«
»Das soll er Ihnen erklären.«
Der Pfarrer bemüht sich um ein versöhnliches Lächeln, während er aufsteht und seinen Schreibtisch umrundet, wobei er darauf achtet, einen weiten Bogen um Dr. Jessup zu machen. Ich kann mir nur ausmalen, was sich abgespielt hat, bevor ich das Pfarrhaus betrat. »Herr Bürgermeister«, beginnt der Pfarrer mit sanfter Stimme; dann mustert er mich aufmerksamer. »Fühlen Sie sich wohl, Mr. Cage?«
»Wieso?«
»Ihre Augen sind ganz rot.«
»Ich habe an diesem Wochenende nicht
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