Äon
zwanzig Mitarbeiter saßen im Publikum, nicht viel mehr als auf dem erhöhten Platz hinter dem Rednerpult. Rimskaya stand auf einer Seite, während Wallace Rainer die erste der vier Soziologen vorstellte.
Lanier hatte sich in die hinterste Reihe gesetzt, von wo aus er den Vortrag verfolgte. Zehn Minuten nach Einleitung des ersten Beitrags nahm Patricia neben ihm Platz und verschränkte die Arme.
Die erste Rednerin stellte eine kurze Hypothese über die Familienstruktur der Steinbewohner vor. Ausführlicher ging sie auf die dreiköpfige Familie ein, wie sie vor allem bei den Naderiten üblich war.
Patricia warf Lanier einen kurzen Blick zu. »Warum darf ich nicht mehr in die Bibliotheken?« fragte sie flüsternd.
»Niemand darf mehr von heute an«, erwiderte er.
»Ich weiß, aber warum?«
»Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. Ich erklär’s dir später.«
Patricia wandte sich seufzend ab. »Okay«, sagte sie. »Da tu ich eben draußen, was ich kann. Das wird doch noch erlaubt sein?«
Lanier, der ihr nachfühlen konnte, wie ihr zumute war, nickte.
Die zweite Rednerin war eine gewisse Tanya Smith, weder verwandt noch verschwägert mit Robert Smith. Lebhaft erläuterte sie die Evakuierung des Steins.
Patricia hörte nur halb zu.
»Es ist anzunehmen, daß ein Umsiedler-Gremium die Anträge auf Auswanderung durch den Korridor bearbeitet und den Transport organisiert hat…«
Patricia schaute wieder zu Lanier, der ihren Blick erwiderte.
Es war schon verrückt; so betreibt man kein Geschäft, geschweige denn ein riesiges Forschungsunternehmen.
In ihrer kritischsten Stunde wurde die Menschheit vertreten von blind um sich tappenden, faselnden Studierten. Wenn Lanier an Takahashi dachte und daran, daß alle Sicherheitsvorkehrungen umsonst gewesen waren, drehte sich ihm wieder der Magen um.
Der Plan war natürlich gewesen, Forschern mit niedriger Unbedenklichkeitseinstufung und Farbkategorie beste Arbeitsmöglichkeiten einzuräumen unter der Aufsicht eines Gruppenleiters mit nahezu unbegrenzter Unbedenklichkeitsklasse. Die Forschungsergebnisse wurden dann ausgesondert und gesammelt und zu einer Aussage formuliert, die wiederum anhand der Quellen in den Bibliotheken zu überprüfen waren. Es mußte so gehandhabt werden. Da nur sehr wenige Leute für die Bibliotheken zugelassen waren, in denen Unmengen von Daten verwahrt waren, hätte es Jahrzehnte gedauert, einen fundierten Überblick zu gewinnen.
Das war zumindest die Überlegung dahinter. Lanier hatte daran festgehalten, weil er immerhin noch im Herzen Soldat war, der denjenigen, die über Hoffman standen, gehorchte, wenn nicht gar blind vertraute.
Aber das spielte keine Rolle.
Das spielte keine gottverdammte Rolle mehr, denn es würde sowieso alles dichtgemacht. Sie würden einpacken und heimkehren, und Takahashi würde (hoffentlich) melden, daß ein glaubwürdiger Versuch unternommen werde, die besorgten Russen zu beschwichtigen.
Aber die Sowjets würden trotz allem nicht in die Bibliotheken vorgelassen werden. Es sei denn der Präsident wäre total verrückt. Man greift nicht mit zwei Händen gleichzeitig in die Büchse der Pandora!
Er hatte einen Teil des Materials über die hochentwickelte Technologie des Steins gesichtet. Er hatte die Lehrmethode erlebt, die in den Bibliotheken angewandt wurde. Er hatte die biologische und psychologische Manipulation der Steinler mitbekommen. (Manipulation – deutete das Wort nicht auf Vorurteile hin? Ja. Was er da zum Teil gesehen hatte erschütterte ihn zutiefst und trug zu den schlimmsten Trips auf dem Stein bei.) Er war sich nicht sicher, was sein geliebtes Vaterland mit diesem brisanten Zeug anstellen würde – von den Sowjets ganz zu schweigen.
Patricia hörte sich die Scharade noch ein paar Minuten lang an und ging dann hinaus. Lanier erhob sich ebenfalls und folgte ihr. An der Ecke zum Frauenbungalow holte er sie ein.
»Moment!« sagte er. Sie blieb stehen und drehte sich halb zu ihm um, schaute aber zu einer eingetopften Linde, die auf dem freien Platz zwischen zwei Gebäuden wuchs. »Ich möchte nicht, daß du deine Arbeit einstellst. Ganz und gar nicht.«
»Ich hör’ nicht auf«, sagte sie.
»Das wollte ich nur klarstellen.«
»Ist mir schon klar.« Nun sah sie ihm, die Hände in den Taschen, ins Gesicht. »Du kannst nicht froh sein, so wie’s jetzt läuft.«
Er machte große Augen und warf den Kopf zurück, denn er ärgerte sich über so viel Dummheit und Anmaßung… oder was immer sonst
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