Aethermagie
sagen können, als dass die »X-ler« in einem speziellen Trakt verwahrt wurden und keinen Kontakt mit den anderen Patienten hatten.
Jewgenij äußerte die Vermutung, dass X eine Abteilung vor allem für Kinder und junge Frauen sei, aber er habe auch schon einen jungen Mann mit dem Zeichen auf der Jacke gesehen. Er schrieb:
»Abgesehen von den Versuchen, die mit den Gewalttätern angestellt werden, scheint dies der rätselhafteste Bereich der Abteilung zu sein. Die X untersteht Professor Charcot direkt. Das und die Geheimniskrämerei rund um die X-ler scheint darauf hinzudeuten, dass hier etwas Wichtiges vor sich geht.«
Sie machte sich eine Notiz und blätterte weiter. Ihr Blick fiel auf eine Passage, deren Schrift zittrig und unsicher über das Papier wanderte.
»Heute ist kein guter Tag. Ich verliere mich. Nach der Behandlung, die seit ein paar Tagen immer im Morgengrauen stattfindet, bin ich orientierungslos und manchmal dauert es bis zum Mittag oder noch länger, bis ich wieder weiß, wer und wo ich bin. Ich habe mit Grünwald gesprochen. Er ist einer meiner Folterknechte, aber ich vertraue ihm. Das ist seltsam.
Heute war es wieder Ivo, mit dem sie mich zusammengeschlossen haben. Ich hätte niemals gedacht, dass es so schrecklich sein kann, die Empfindungen eines anderen zu spüren. Er ist nur noch rote, heiße, überkochende Wut, blinder und wortloser Hass, eine rohe, bluttriefende Gewalt, die mich schier zerreißt. Aber nicht das ist das Schlimmste …«
Hier brach die Aufzeichnung ab und setzte einige Zeilen später mit einer fast unleserlich krakeligen Schrift wieder ein:
»… das Schlimmste ist mein eigener Hass, die Gewalt in mir, der Zorn, der Wunsch, anderen wehzutun oder sie zu töten. In solchen Sitzungen bin ich so weit von dem Menschen entfernt, der ich zu sein glaubte. Ich habe Angst vor mir selbst. Was, wenn ich eines Tages wieder draußen unter Menschen bin, die nicht wissen, welcher Dämon sich in mir verbirgt? Ich nehme all diesen Zorn, diesen Hass, diese Gewalt mit mir und niemand ist da, der mich rechtzeitig in eine Jacke steckt und mir die Riemen umlegt. Ich müsste froh sein darüber, hier zu sein, in Sicherheit. Aber ich habe Sehnsucht. Katya, du bist so weit weg. An manchem Tagen erwache ich und kann mich an dein Gesicht nicht mehr erinnern. Meine Vergangenheit verblasst. Wie heiße ich? 329. Das ist meine Nummer. Dieser Keller ist meine Heimat. Grünwald ist mein Vater und meine Mutter, mein einziger Freund. Er schnallt mich fest und steckt mir das Beißleder zwischen die Zähne, und wenn ich schreie, beruhigt er mich.
Katya.
Lass mich hier.«
Ihre Fingernägel tippten einen schnellen, nervösen Rhythmus gegen das Glas, die Flasche, den Tisch. Dann zündete sie sich eine neue Zigarette an und blätterte zurück.
»… untersteht dem Kriegsministerium. Ich bin Reichskriegsminister von Windesberg einmal begegnet. Ein widerlicher Kerl. Er ist der Kopf, der hinter diesen Experimenten steckt – und, Katya, das riecht alles nicht gut. Du weißt, dass ich einen Riecher habe. Das hier ist faul, es stinkt wie schon lange totes, verwesendes Aas.
Sie extrahieren etwas aus den Insassen, und zwar nur aus den gefährlichen, gewalttätigen Irren und Straftätern wie Moroni und Branković. Verflucht, du hättest einen Ætherphysiker hierher schicken müssen, nicht mich. Ich verstehe diese Aufzeichnungen nicht.
Aber immerhin begreife ich so viel, dass sie aus diesem Extrakt ein Serum herstellen, das aus normalen Soldaten so etwas wie Berserker mit übermenschlichen Kräften und einem ebensolchen Durchhaltevermögen machen soll. Das ist der Plan – aber der Weg dahin scheint steiniger zu sein, als es dem Kriegsministerium lieb ist.
Das alles klingt für mich wie Wahnvorstellungen eines der Insassen hier … aber du weißt, dass ich so etwas immer sage, wenn es um Angelegenheiten des Militärs geht.
Was das Geheimnis des roten X angeht, bin ich immer noch keinen Schritt weitergekommen.«
Katalin lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Tisch. Sie hatte sich umgezogen, als sie aus dem Brünnlfeld gekommen war, und trug nun ihre bequemen Reithosen und das weiche, dicke Hemd, das einmal Jewgenij gehört hatte. Immer noch schien der Klinikgeruch nach Karbol und Fäkalien in ihrem Haar zu hängen und an ihrer Haut zu haften, obwohl sie geduscht hatte. Sie beugte sich vor, streifte die Asche von ihrer Zigarette und zog den Korken aus dem Flaschenhals. Zwei Fingerbreit gluckerten in das
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