Aethermagie
verabschiedete sich in der Eingangshalle von ihr und gab dem Wärter am Eingang den Wink, ihr die Tür aufzuschließen. Sie begann die Halle zu durchqueren und hörte, wie jemand hinter ihr herlief. »Major Nagy«, rief eine atemlose Stimme. »Sie haben Ihre Zigaretten vergessen!«
Katalin tastete unwillkürlich nach ihrem Zigarettenetui, das sich wohlverwahrt in ihrer Jackentasche befand.
Es war der Wärter Grünwald, der ihr gefolgt war und ihr nun unter dem Blick des Wärters etwas in die Hand drückte. »Danke«, sagte sie und steckte es nach einem flüchtigen Blick darauf ein. Papier raschelte zwischen ihren Fingern. Ein abgegriffenes Notizbuch? Sie nickte Grünwald zu und ließ sich die Tür ins Freie öffnen.
Draußen auf der gekiesten Einfahrt blieb sie eine Weile stehen und atmete in vollen Zügen die frische Luft. Das Notizbuch würde sie sich ansehen, sobald sie wieder in ihrem Büro im Roten Haus war. Und dann würde sie auch erst darüber nachdenken, was es zu bedeuten hatte, dass Josip Grünwald, den sie für tot gehalten hatte, seit zwei Jahren als Wärter im Brünnlfeld arbeitete.
Eine lange, dunkle und einsame Nacht hatte Katalin Nagy im kleinen Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe allein in der Stille ihres Büros gesessen, geraucht, die halbleere Wodkaflasche angestarrt und sich immer wieder dagegen entschieden, sie zu öffnen und ihr endgültig den Garaus zu machen. Das war ein Ritual zwischen ihr und Jewgenij gewesen. Wenn ein Auftrag unangenehm wurde, wenn er unlösbar schien oder schon Opfer gefordert hatte, wenn man auf der Kippe stand, aussteigen, sich zurückziehen und seine Wunden lecken, neue Kraft schöpfen oder wenigstens einmal wieder eine Nacht einfach nur schlafen wollte – dann hatten sie sich einen Ort gesucht, an dem sie niemand stören würde, die Flasche zwischen sich gestellt und sie geleert.
Das war eine wilde Zeit gewesen, eine Zeit, in der sie das Abenteuer gejagt und ein paarmal zu oft aufgestöbert hatte. Mit Begeisterung hatte sie sich darauf eingelassen, für die Kaiserin zur Spionin zu werden, und mit der gleichen Begeisterung hatte sie Jewgenij dazu gebracht, ihr dabei zu helfen, obwohl er ein viel zu besonnener, ruhiger Mann für solche Eskapaden war. Er hatte sie eindringlich davor gewarnt, bei diesem gefährlichen Spiel mitzumachen, aber als sie seine Warnungen in den Wind schlug, war er ihr gefolgt.
Sie war nicht mehr die tollkühne junge Frau von einst. Mit den Jahren wuchsen die Skrupel und Bedenken. Mit den Jahren hatte sie gesehen, was einem Menschen zustoßen konnte. Sie war nicht unverwundbar und auch die Menschen, die sie liebte, bedeuteten verwundbare Stellen in der Panzerung.
Katya stützte das Kinn in die Hand und tippte sacht mit den Fingernägeln gegen das leere Glas. So verlockend es auch erschien, sich den Schlummer mit ein wenig Nachhilfe durch den Alkohol zu erkaufen – sie brauchte jetzt vor allem anderen einen klaren, nüchternen Kopf. Ihr Blick fiel auf das Tagebuch. Es war abgegriffen, als hätte sein Besitzer darauf geschlafen. Wahrscheinlich hatte er das auch.
Ihre Finger blätterten von ganz alleine durch die beschriebenen Seiten. Katalin las hier einen Satz, da einen Abschnitt. Die Tränen, die früher in der Nacht noch bedrohlich locker in ihren Augen und in der Kehle gesessen hatten, waren ausgetrocknet, ohne die Oberfläche erreicht zu haben. Sie wusste, wann man sich Gefühlsausbrüche leisten konnte und wann nicht. Dies war nicht die Zeit für Tränen, jetzt musste sie kämpfen.
»Ich habe es endlich geschafft, mir einige der Aufzeichnungen des Stationsarztes anzusehen. Manchmal lassen sie mich warten, und weil ich mich friedlich und folgsam gebe wie ein Lämmchen, werden sie nachlässig und stellen keine Bewachung für mich ab. Sie schließen nur die Tür – und das hat mir jetzt zweimal die Gelegenheit verschafft, eine Schublade aufzubrechen und darin herumzuschnüffeln. Ich war noch nie zuvor so dankbar für die Lektion, die der krumme Will uns damals gegeben hat, erinnerst du dich, Katya? Ein einfaches Schloss wie das dieses Schreibtisches hätte ihn wahrscheinlich nur ein Achselzucken gekostet, mich immerhin fünf Minuten.«
Ein paar Seiten später schrieb er etwas über die Insassen mit dem roten X auf der Jacke. Er hatte seinen Wärter nach ihnen gefragt und – weil der ihm keine Antwort geben wollte – versucht, bei anderen Insassen etwas über diese speziellen Patienten herauszufinden. Niemand hatte ihm mehr dazu
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