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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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daraus hervor. Anica kam müde und von Kopf bis Fuß staubbedeckt unweit der Einschlagstelle der ersten Raketensalve an, wo der Oberleutnant seinen Zug antreten ließ.
    „Sorry“, sagte er, holte tief und vernehmlich Luft. „Sie werden also doch nicht das vor die Kamera bekommen, worauf man ursprünglich aus war. In einigen Minuten werden die Libellen hier sein. Die Offensive wird abgebrochen.“
    Schöne Offensive, sagte die Journalistin zu sich selbst. Sie hatte mehrere Kassetten voller ungewöhnlicher Aufnahmen geschossen. Die Toten und die Verstümmelten, sterbende und leidende, wimmernde, fluchende, betende Soldaten, Menschen, die keine Gesichter mehr besaßen, oder deren Gliedmaßen, entsetzlich zerfetzt, von den Tragbahren herabbaumelten, hatte ihre Kamera festgehalten: das Bild einer mit ihren eigenen, schrecklichen Waffen geschlagenen Truppe. Auf den Filmkassetten hatte sie Chaos und Verzweiflung pur gebannt, den stinkenden, hässlichen Tod, das unmenschliche, unfassbare Leid. Sie war mehr zermürbt von ihrer Arbeit als durch den Schock des Angriffs, und wünschte sich nach Hause an die Spree. Nichtsdestotrotz sank sie in die Hocke, um den Filmapparat neu zu laden.
    „Wie kann das passieren?“ fragte sie den Oberleutnant.
    „Da müssen Sie die Jungs von der Air Force fragen“, entgegnete er schulterzuckend. Dann begann sein Gesicht sich vor Wut zu verziehen. „Oder den UN-Oberkommandierenden und die NATO. Ich werde, verdammt noch mal, Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Warum nur straft man uns derart? Weshalb bloß um Gottes Willen? Mein Zug ist praktisch aufgerieben!“
    Anica sah es. Die Überlebenden kauerten erschöpft von der ausgestandenen Angst – mehr als von den anstrengenden Transportarbeiten – auf dem harten Boden. Es wurde kaum ein Wort miteinander gesprochen, ein einziger Gedanke beherrschte sie. Nur weg von hier!

45 Der Glut sprühende Krieg
     
    Corporal Noah Nymiah schob sich an die Reporterin heran, derweil der Oberleutnant die Gruppen für den Abflug einteilte. Nymiah wirkte griesgrämig, als er eine flache Schnapsflasche aus der Seitentasche seiner Uniformhose zog, sie der Journalistin hinhielt. Sie nahm einen ordentlichen Schluck, und dann filmte sie den Soldaten, wie er den Flachmann ansetzte, süffelte, sich die Lippen mit dem Ärmel abwischte, die Flasche verkorkte. Mit weiterhin mürrischer Miene steckte er sie weg, lehnte sich zurück an einen großen Stein.
    Unvermittelt zerriss ein knallender Schuss die Stille.
    „Verdammt, wer schießt da?“ schrie der Oberleutnant mit böser, gepresster Stimme und sprang auf.
    Das fehlte gerade noch, dass man durch sinnloses Gekrache auf sich aufmerksam machte.
    Allerdings ließ sich der Urheber des Lärms nicht mehr befragen, er lebte nicht mehr. Der Schuss hatte sich aus dem Gewehr des Funkers gelöst, ihn voll ins Gesicht getroffen und ihm den halben Schädel abgerissen.
    „Er hat sich erschossen“, flüsterte die Journalistin betroffen, „weil er die tägliche Angst nicht mehr ertragen konnte oder weil er sich vor dem entstandenen Kampf fürchtete. Vielleicht hat es aber auch einen anderen Grund, wer weiß. Ihn selbst kann man nicht mehr befragen.“
    Der Corporal schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht, dass er sich selbst erschossen hat“, sagte er mit großem Ernst in der Stimme. „Der Schuss hat sich zufällig selbst gelöst.“
    „Zufälle haben ihre Ursachen“, sagte Anica.
    „Vielleicht hat er sich ein wenig gehen lassen, Ma´am, hat sich aufgegeben. Wenn einer in dieser Verfassung eine Waffe reinigt, die für ihn neu ist! Da kann es schnell passieren, dass man eine Kugel in den Kopf bekommt. Zufall? Man kann es nehmen, wie man will.“
    „Ich weiß nicht“, sagte Anica.
    „Der Oberleutnant wird den Unfall melden“, sagte Nymiah.
    Die Reporterin blieb im Stillen bei ihrer Meinung, doch dachte sie nicht mehr allzu lange darüber nach. Der schwere Raketenhagel, in dem sie etliche Männer verloren hatten, schob sich sogleich zwischen ihren Verstand und diesen Zwischenfall. Ein Namenloser mehr, der aus der Liste gestrichen werden musste, eine Kurzmeldung über einen bedauerlichen Unfall, damit war die Sache erledigt.
    Jeden Tag starben Männer wegen irgendeiner Kleinigkeit, mit der sich abzugeben sie nicht bereit waren. Zu müde, um die Kugelweste zuzuklicken, zu müde, um das Gewehr zu reinigen, zu müde, um auf ein Licht zu achten, zu müde, um die

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