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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Blut aus den Ohren, wenn er plötzlich an die Oberfläche der Verantwortung gerissen wird.
Unvermittelt tauchte der Unteroffizier in ihrem Rücken auf. Instinktiv hatte er ebenso gehandelt wie die Reporterin. Sie half ihm, den Korkgürtel anzulegen. Er tat ihr den Gegendienst, während sie sich nebeneinander treiben ließen. Halbwegs zu Atem gekommen, keuchte er: „Eine Mausefalle wie aus dem Pionierlehrbuch! Und wir sind hineingetappt!“ Sein Kopf verschwand unter der Oberfläche. Er tauchte gleich wieder auf, spuckte eine Wasserfontäne aus.
    „Wo ist der Blonde?“ fragte Anica.
    Die Antwort war ein knappes Achselzucken. „Eine schwimmende Mausefalle!“ wiederholte der Soldat. „Eine verdammte Treibmine! Niemand mehr da außer uns. Verflucht noch mal!“ schrie der Steuermann, „lass mich wieder ein Boot haben!“
    „Und jetzt?“ fragte die Journalistin. „An Land?“
    „Bist du wahnsinnig, Mädchen?!“ rief der Legionär entsetzt. „Strömung und Strudel zerschmettern dir alle Knochen im Leib. Den Rest geben dir diese verdammten orientalischen Halbaffen, von denen es dort bestimmt nur so wimmelt. Ich habe das andere Boot angefordert. Muss gleich hier sein.“ Nach einigen Sekunden setzte er hinzu: „Falls sie mich noch gehört haben.“
    „Und wenn wir bis dahin nicht erfroren sind“, stammelte Anica mit blauvioletten Lippen. Sie betrachtete die Wundersanduhr in ihren zitternden Fingern, das Geschenk ihres Freundes. Als er sie ihr gab, war es für sie eine stinknormale Sanduhr, deren Sandkörner stets von oben nach unten rieselten. Damals hatte sie nicht geahnt, dass bestimmte Umstände wider alle Logik physikalische Gesetze über den Haufen werfen konnten, die das Rad der Zeit zurückdrehten, wenn auch nur für einige wenige Augenblicke. Auf Rettung hoffend, wartend, bedachte sie, dass die ätherischen Sandkörner alle aufstiegen und nun wieder nach unten rieselten in die Tiefe, aus der es kein Entrinnen, kein Zurück gab.
    Wie viele Säcke voll Sand mag mein Leben ausmachen, fragte sie sich. Langsam und stetig rieselte er durch die kleine Öse zwischen den ein wenig ungleichmäßigen Kugeln. Wie viel ist verbraucht? Ist unten schon mehr Sand als oben? Und wenn ich jetzt noch tödlich getroffen werde, rutscht dann der restliche Sand auf einen Schub hinunter und alles ist auf einen Schlag vorbei? Wie viel Sandkörner stehen einem Menschen für sein Leben zur Verfügung? Gleich zu Anfang müsste einem gesagt werden: Dies ist dein Anteil; vergiss nicht, der Sand hört keine Sekunde lang auf zu rieseln.
    Stumm beobachtete der Sergeant sie interessiert mit einer hochgezogenen Augenbraue, und es dauerte fast eine Viertelstunde, bis endlich, weit flussaufwärts, ein Scheinwerferstrahl auftauchte. Er kam rasch näher, strich über die tosende Wasserfläche und erfasste schließlich die Köpfe der beiden Schiffbrüchigen. Kräftige Hände zogen sie an Bord des Schlauchbootes. Der Sergeant wechselte ein paar Worte mit dem Patrouillenführer, worauf das Boot sich auf der Stelle drehend geschwinde Fahrt stromaufwärts aufnahm. Als sie sich dem Punkt näherten, wo sich der Feuerüberfall abgespielt hatte, fanden sie im Strahl des Scheinwerfers die Lücke im Steilufer. Das Schlauchboot glitt langsam heran, das Ufergestade steckte ruhig in der nur vom monotonen Wasserrauschen unterbrochenen Stille; die reißende Strömung hatte alles, was vom ersten Boot übriggeblieben war, fortgeschwemmt, und auch als der Scheinwerferfinger die Steilhänge fahrig abtastete, rührte sich nichts. Das Wasser zerrte an dem Safaribuschhut des Legionärs, der sich mit den Kinnbändern an einem Ast verheddert hatte. Das Bug-MG schickte bellend eine lange Feuerstoßkette ins niedrige Nadelgehölz. Doch außer den heulenden Querschlägern der eigenen Kugeln kam keine Antwort.
    „Sind längst über alle Berge“, knurrte der Patrouillenführer. „Guerillataktik: Zuschlagen und nichts wie weg! Du kannst jeden Halm und jeden Stein am Ufer umdrehen, finden wirst du nichts. Nicht mal das Holzfloß. Das haben sie ins Gestrüpp hochgezerrt. Jetzt hocken sie irgendwo in ihren Felsspalten und fressen ihre gottverfluchten Maisbrote.“
    Das Schlauchboot drehte ab. Die bosnischen Soldaten in den buntscheckigen Uniformen wechselten mit verzerrten Mienen und zittrigen Händen den Maschinengewehrlauf. Die Reporterin war froh, dass niemand merkte, wie ihr unkontrolliert die Beine schlotterten – nicht allein der Kühle wegen. Während das

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