Afrika, Meine Passion
dem das Durchschnittsalter bei etwa 18 Jahren liegt, bist du gezwungen, jung zu handeln, und kannst nicht zuwarten. Man muss ihnen Führung und Verantwortung übertragen. Heute sind die meisten Leader oder Coaches zwischen 14 und 16 Jahre alt. Sie werden respektiert und zeigen Engagement. Letztes Jahr hat die FIFA die jüngste gewählte Fußballoffizielle, Chairman genannt, anerkannt. Sie heißt Charity Muthoni, ist zwölf Jahre alt und arbeitet in ihrer Freizeit mit 130 Teams und etwa 2.000 Leuten zusammen – ist das nicht unglaublich?«, sagt Bob stolz.
Es ist tatsächlich unglaublich, wie reif diese Kinder sind im Vergleich zu den Jugendlichen bei uns in Mitteleuropa, die in diesem Alter teilweise noch zur Schule oder zum Sportverein gefahren werden und deren Betreuungspersonen um Jahre älter sind. Es ist beeindruckend, wie selbstbewusst diese Jugend wirkt. Wenn ich sie beobachte, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Wohlstand in unserem Land die Kinder nicht etwa freier, sondern unselbstständiger, abhängiger und vor allem bequemer macht.
Bob fährt fort: »MYSA ist nicht nur Fußball oder generell ein riesiger Sportverein. Nein, MYSA schafft darüber hinaus Vorbilder für die noch jüngeren Kids. Sie müssen ein Ziel vor Augen haben, damit sie nicht auf der Straße landen. In den Slums musst du nicht die Leader für morgen ausbilden, das ist Unsinn, wir brauchen sie heute – jetzt! Deshalb ist die zweite sehr wichtige Botschaft von MYSA an die Kinder: Du kannst sein, wer immer du sein möchtest, also erreichen, was immer du dir vornimmst – es ist nicht unmöglich –, aber verbunden mit unglaublich harter Arbeit. Das ist der einzige Unterschied zu anderswo.«
Im Hintergrund höre ich eine Lautsprecherdurchsage und Bob fordert mich auf, mit ihm zusammen die beiden Handicap-Fußballmannschaften zu begrüßen, die in Kürze gegeneinander spielen werden. »Weißt du, Corinne, wir haben eingeführt, dass bei uns die Behinderten ebenfalls eine Chance haben. Durch den Sport werden sie sichtbar. Sie werden wahrgenommen. Vorher wurden diese Menschen weggesperrt oder verstoßen, weil sich die Familien dafür schämten oder gar in schlechten Ruf gerieten und damit die Heiratschancen der anderen Familienmitglieder sanken. Hier erhalten sie eine Plattform und können endlich sein, wie sie sind. Du wirst gleich ein engagiertes Fußballmatch sehen«, prophezeit er lachend.
Bob und ich geben den Spielern die Hand. Jeder hat eine Behinderung, geistig oder körperlich, aber die Aufregung vor dem Match ist deutlich spürbar. Auf der Rückseite ihrer gelben Trikots ist der Spruch zu lesen: »Gebt Jungen mit Behinderung eine reelle Chance.«
Ich stelle mich neben das Tor, wo noch einige andere Zuschauer stehen. Der Torwart bewegt sich etwas zappelig und verfolgt nur ab und zu das Spiel. Seine Füße stecken in normalen Straßenschuhen mit einer silbernen Seitenverzierung. Er scheint geistig behindert zu sein. Ein Stürmer mit zwei unterschiedlichen Schuhen rennt auf das Tor los, doch der Torwart wehrt den ersten Schuss ab. Der Ball springt ins Feld zurück, und da einige Zuschauer hinter ihm klatschen, dreht er sich freudig um und schaut uns an, während schon wieder ein Angriff auf sein Tor zurollt. Nur mit Mühe kann ein Abwehrspieler das erste Tor verhindern. Dieser Abwehrspieler fasziniert mich von der ersten Sekunde an. Er spielt nur mit dem linken Bein, denn das rechte hängt irgendwie unausgewachsen und deformiert an der Seite. Um das zweite Bein zu ersetzen, benutzt er einen Stock. Und es ist unglaublich, wie dieser Junge über das Spielfeld fegt. Er rennt nach vorne, dann wieder über das ganze Spielfeld zurück, kickt da und dort einen Ball fort, vollführt Hechtsprünge und Kopfbälle, dass mir der Atem stockt. Ich bin absolut begeistert von seiner Wendigkeit und seiner Spielfreude. Er ist mit Abstand der schnellste Spieler. Selbst bei Freistößen nimmt er Anlauf, stürmt auf den Ball zu, stützt sich mit den beiden muskulösen Armen auf seinem Stock ab und kickt den Ball mit dem gesunden Bein weg. Es ist fantastisch, und ich kann nicht anders, als ihn anzufeuern. Neben mir steht schon länger eine afrikanische Mama. Sie schaut mich lachend an und fragt: »Do you like the game?« »Ja, absolut toll!«, gebe ich zur Antwort. Daraufhin sagt sie: »Der Junge mit dem Stock ist mein Sohn. Ich bin so stolz auf ihn.« Mir gehen Bobs Worte durch den Kopf, dass vor wenigen Jahren diese Behinderten keine
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