Afterdark
Gesicht sitzt reglos auf einem Stuhl und wird von einer Fernsehkamera aufgenommen. Das ist die Sachlage, die dort geschaffen wird. Vorläufig bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Urteil aufzuschieben und sie zu akzeptieren, wie sie ist. Wir werden ihn den »Mann ohne Gesicht« nennen.
Die Kamera ist jetzt auf einen Winkel fixiert. Dabei nimmt sie reglos den »Mann ohne Gesicht« von vorn und ein wenig von unten ins Visier. Der Mann im braunen Anzug schaut, ohne sich zu rühren, durch die Bildröhre und durch das Glas auf unsere Seite. Mithin späht er von der anderen Seite in das Zimmer, in dem wir uns befinden. Natürlich sind seine Augen hinter der geheimnisvollen, schimmernden Maske verborgen. Dennoch können wir das Gewicht seines Blickes lebhaft spüren. Mit unerschütterlicher Ausdauer starrt er auf etwas, das vor ihm liegt. Aus seiner Blickrichtung zu schließen, muss es sich irgendwo in der Gegend von Eri Asais Bett befinden. Aufmerksam versuchen wir, seiner angenommenen Blickrichtung zu folgen. Ja, kein Zweifel. Der Mann mit der Maske starrt mit gestaltlosen Augen auf die schlafende Eri. Von Anfang an hat er nur sie angeschaut. Endlich begreifen wir: Er kann zu uns herübersehen. Der Bildschirm funktioniert wie ein offenes Fenster zu dem Raum auf unserer Seite.
Mitunter wird das Bild schwächer, dann kommt es wieder. Unterdessen verstärkt sich auch der elektronische Ton. Es hört sich an, als würden die Gehirnwellen eines Menschen mit einem Signalton hörbar gemacht. Er schwillt an, wird voller, erreicht an einem gewissen Punkt eine Obergrenze, ebbt wieder ab und verstummt nach kurzer Zeit. Dann, als hätte er es sich anders überlegt, erhebt er sich aufs Neue, und alles wiederholt sich. Der Blick des Mannes ohne Gesicht hingegen weicht und wankt nicht. Seine Konzentration bleibt ungestört erhalten.
Im Bett schläft das schöne Mädchen. Ihr glattes schwarzes Haar breitet sich vielsagend wie ein Fächer auf dem Kopfkissen aus. Der weiche Mund ist geschlossen, ihr Herz auf den Meeresgrund gesunken. Sooft der Bildschirm flackert, spielen Lichtreflexe auf ihrem Profil, und die tanzenden Schatten verwandeln sich in einen geheimen Code. Der Mann ohne Gesicht sitzt still auf seinem schlichten Holzstuhl und starrt sie wortlos an. Seine Schultern heben und senken sich sachte im Rhythmus seiner Atmung. Wie ein unbemanntes Boot, das in der Morgenstille auf den Wellen schwankt. Sonst rührt sich nichts.
5
01:18 Uhr
Mari und Kaoru gehen durch eine unbelebte Gasse. Mari hat ihre dunkelblaue Boston-Redsocks-Kappe tief ins Gesicht gezogen. Kaoru begleitet Mari. Mit der Mütze sieht sie aus wie ein Junge. Vielleicht trägt sie sie deshalb.
»Ich bringe dich lieber«, hatte Kaoru gesagt. »Das ist eine unsichere Gegend hier.«
Zur Abkürzung nehmen sie dieselbe Treppe wie auf dem Hinweg.
»Wenn du Zeit hast, könnten wir uns noch irgendwo kurz zusammensetzen, ja?«, sagt Kaoru.
»Wo denn?«
»Ich hab Durst und würde gern ein kaltes Bier zischen. Was ist mir dir?«
»Ich vertrage keinen Alkohol«, sagt Mari.
»Du kannst ja Saft oder so was trinken. Irgendwo musst du doch sowieso die Zeit bis zum Morgen totschlagen, oder?«
In einer kleinen Kneipe setzen sich die beiden an die Theke. Sie sind die einzigen Gäste. Eine alte Platte von Ben Webster läuft, My Ideal. Die Aufnahme ist aus den fünfziger Jahren. Im Regal stehen keine CDs, nur vierzig oder fünfzig alte Langspielplatten. Kaoru trinkt ein Bier vom Fass in einem hohen schmalen Glas. Vor Mari steht ein Perrier mit frischem Limonensaft.
»Eigentlich war sie sehr hübsch«, sagt Mari. »Die Chinesin?«
»Ja.«
»Schon, aber wenn sie so weitermacht, wird sie nicht mehr lange hübsch sein, sondern ziemlich schnell alt und verbraucht. Glaub's mir, ich habe das schon oft gesehen.«
»Sie ist neunzehn, so alt wie ich.«
Kaoru kaut ein paar Nüsse. »Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Dieser Job ist zu aufreibend für ein normales Nervenkostüm. Und wenn sie dann noch an der Nadel oder so was hängen, ist eh bald Schluss.«
Mari schweigt.
»Bist du Studentin?«
»Ja, ich studiere Chinesisch an einer Fremdsprachenuni.«
»Fremdsprachenuni ...?«, sagt Kaoru. »Was willst du machen, wenn du fertig bist?«
»Wenn ich es schaffe, würde ich gern freiberuflich übersetzen oder dolmetschen. Bei einer Firma fest angestellt zu sein interessiert mich nicht.«
»Du bist intelligent.«
»Nicht besonders. Aber meine Eltern haben mir von klein auf
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