Agenten - Roman
lauter viel zu nahe Bilder, so daß ich mir mit der Rechten über die Brust fuhr, um die schweren Schatten zu verscheuchen. Am lebhaftesten aber, nicht zu vertreiben, immer wieder hervorgleitend, war das Bild des Gemüseladens, zu dem der geduldige humpelnde Mann gehörte, Walters Vater, der nicht aufschaute, wenn man ihn grüßte, und sich an den Kisten draußen zu schaffen machte; es war das Bild all dessen, was ich mit einem Mal verloren hatte, ein Urbild dieser lange verfluchten Landschaft, ein verschwimmendes Stilleben, stimmenlos, gehalten in kontrastreichem Schwarz-Weiß, flackernd auch manchmal, wie von einem Projektor an meine Decke geworfen.
Dann tauchten die letzten Szenen des Umzugs auf, der geborgte Lastwagen, auf dem wir die wenigen Möbel verstaut hatten, das alte Sofa, die hin und her rutschende Liege, die weißen Küchenstühle aus dem Keller, die ich neu lackiert hatte, der Kühlschrank, die Herdplatten, einzelne, aus ihren früheren Zusammenhängen gerissene Gegenstände, die auf der Ladefläche wirkten wie nutzloses Gerümpel. Vater hatte den Laster gefahren, und ich hatte mit Sarah inmitten dieser zusammengewürfelten Ladung gesessen. Zu allem Überdruß hatte Vater sich auch noch verfahren, wir hatten die falsche Ausfahrt erwischt, so daß die Fahrt sich hingezogen hatte, eine Fahrt, die ich schnell hatte überstehen wollen, weil ich nicht zurechtkam mit Sarahs plötzlicher Anhänglichkeit und auch Vaters hilflosen Anblick nicht mehr ertragen konnte, nicht ihn und nichts mehr von alldem, was uns jahrelang so
gequält hatte und was niemand hatte aussprechen wollen, bis es jetzt, in dieser Stunde meiner Trennung Wirklichkeit geworden war: wir gehörten nicht zusammen.
Ich atmete tiefer durch und legte mich auf eine Seite, aber an der weißen Wand wanderten die Schatten weiter, und sie wanderten noch, als ich die Augen schloß, panisch machende Schatten, aufsteigend aus Abgründen, so daß es mich immer mehr würgte, eine Angst, tiefe Angst, nahe dem Sterben. Es fuhr sehr deutlich durch mich hindurch, ich gab mich auf, nirgendwo war da noch irgendein Leben, und alles hatte etwas von bitterer Furcht und einer Bedrängnis, als habe mich jede noch mögliche Hoffnung verlassen. Dies Fürchten aber jagte Träume und Wahrnehmungen nur noch schauerlicher gegeneinander, ich geriet beinahe physisch an mich selbst, ein Wunder, daß ich meine Kehle nicht packte. Ich lag und schüttelte mich, dies Lebendige auf meinem alten Bett war nur eine Last, ein zitternder Leichnam. Irgendwo schlug eine Glocke, ja, drei Uhr, doch ein früher lang gehörter Klang schlug fein dazwischen. Ich machte Licht und ging hinüber in die Küche, ein Glas Wasser zu trinken. Ich setzte mich wieder in den Erker und öffnete das Fenster ein wenig. Was war nur mit mir? Nie hatte ich bisher an solche Katastrophen gedacht, es richtete einen zu, und die tiefe Nacht schien die Zeit für diese Schläge. Früher hatte ich nachts all die Geräusche ohne Zögern verstanden, Vaters mehrmaliges Aufstehen, seine langsamen Schritte ins Bad, das kurze unterdrückte Husten und Mutters leise Frage bei seiner Rückkehr, wie spät es nun sei. Am Morgen war ich stets zu früh wach geworden, immer zehn, fünfzehn Minuten zu früh, und dann hatte es beinahe geschmerzt, wenn die Eltern mit den immergleichen Bewegungen draußen den Tag begonnen hatten. Mutters Schritte in die Küche,
das meist zu harte Aufsetzen des Dampfkessels auf die Herdplatte, das zögernde, lustlose Hochziehen des Rollos, das Klappern mit Besteck und Geschirr, Bewegungen, die das Bild des gedeckten Frühstückstischs heraufbeschworen hatten, ein abstoßendes, fatales Bild, dem ich am liebsten entkommen wäre. Dann Sarahs erste Bewegungen gleich nebenan, ich hatte sie durch die dünne Wand mitbekommen, ihr Aufstehen, ihren kleinen Weg zum Fenster, diese ersten entschlossenen Gesten, mit denen sie sich den neu geschöpften Mut beweisen wollte. Ja, ich hatte all dies noch im Ohr, es war das müde Schauspiel der Kindertage, eingebrannt in eine darüber taub gewordene Seele, in der es jetzt wieder aufglühte, als entfache die Einsamkeit diese trüben Momente zu ungewohnter Hitze. Trinken, nur trinken! Ich leerte das Glas, brachte es zurück in die Küche und schlich wieder ins Bett. Hatte ich es richtig gemacht? Ich fand keinen Schutz gegen diese Gedanken, sie sponnen sich aus, unsinnige Leiern mit ihrem faulen Wortzauber, und kein Blitz, der ihnen Einhalt gebot. Niemand in der Familie
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