Agrippina - Kaiserin von Rom
alten Knochen gut. Ach, mein Freund! Seit mein Zögling zum Cäsar erhoben wurde, habe ich noch weniger Zeit als vorher. Weißt du eigentlich, wie wichtig Zeit ist?«
Bevor Valerius antworten konnte, fuhr der Philosoph schon fort: »Sie wird uns entrissen, sie vergeht, sie entgleitet uns, ohne dass wir es merken. Du musst sie sammeln, Valerius, sammeln und bewahren, wie ein höchstes Gut und nicht vertrödeln wie etwas, von dem man genug hat ...«
Valerius sah ihn einigermaßen verständnislos an; er war nicht gekommen, um philosophische Ergüsse über sich ergehen zu lassen. »Eigentlich wollte ich ...«
»Sicher, mein Freund. Wollen wir das nicht alle? Aber wisse: Der größte Teil des Lebens entgleitet denen, die Schlechtes tun, ein großer denen, die gar nichts tun, aber das ganze Leben entgleitetdenen, die irgendetwas Nebensächliches tun. Wen kannst du mir nennen, der heute noch der Zeit den Wert beimisst, der ihr zusteht?«
»Ich könnte ...«
»Niemanden kannst du mir nennen, werter Freund. Ich rate dir, umfasse die Stunden mit festem Arm, denke weniger an das Morgen als an den heutigen Tag. Alles, mein Valerius, alles gehört irgendjemandem, nur die Zeit gehört uns, und doch wird sie uns ständig gestohlen.«
Er holte tief Luft und nahm einen beherzten Zug aus dem Weinbecher. Valerius ahnte, dass der Stoiker mit seinen Ausführungen noch nicht zu Ende war, und beschloss, sich inzwischen an der Bratenplatte gütlich zu tun, die die Sklavin hereingebracht hatte.
»Man will mich zum Consul machen, mich, den Philosophen. Was soll’s, Quaestor und Prätor war ich schon, da will ich auch die letzte Stufe des Cursus Honorum ersteigen, nicht wahr?«
Valerius nickte. »Meinen Glückwunsch, edler Lucius Annaeus. Wie läuft es mit dem neuen Cäsar?«
»Oh, ich will nicht klagen. Ein junges Füllen, das noch etwas der Leine bedarf, wenn ich mich so ausdrücken darf.« Mit einem Mal wurde sein Gesicht ernster. »Wie ist es dir auf deiner Mission ergangen?«
Valerius zögerte. Wie viel sollte, wie viel konnte er dem Philosophen mitteilen? Wie viel wusste der schon? Irgendwie hatte Valerius den Eindruck, dass der Gelehrte in einer anderen Welt lebte und von dieser Welt nur noch so viel wahrnahm, wie er es wollte.
Der Philosoph musste seine Gedanken erraten haben und lächelte. »Du glaubst, ich bin ein alter Spinner, der nur noch für seine Philosophie lebt und nicht weiß, was um ihn herum vorgeht, nicht wahr?«
»Aber keineswegs, ich dachte nur ...«
»Die Götter haben es bestimmt, dass ich in der Philosophie und in der Politik, mag sie auch noch so grausam und berechnend sein, meine Rolle zu spielen habe. Einen Wanderer zwischen zwei Welten nannte mich Agrippina einst, und da hat sie wohl Recht ...«
Valerius hatte seine Mahlzeit beendet und spülte den letzten Bissen mit einem guten Schluck Caecuber herunter. »Sprechen wir über die Welt der Politik«, schlug er vor. Valerius berichtete Seneca von seinem erfolglosen Aufenthalt in der Ubierstadt, ließ aber alle wichtigen Einzelheiten weg. Seneca schien sich eh dafür nicht zu interessieren, denn sein Blick wanderte träumerisch über die Buchregale.
»Begrüßt du eigentlich den plötzlichen Wechsel auf dem Cäsarenthron?« Diese Frage kam völlig unvermittelt, und Seneca hatte zunächst keine Antwort parat.
»Äh ... ja nun ... ich meine ...«
»Hast du nicht auch den alten Cäsar Claudius für einen guten und gerechten Herrscher gehalten?«
Seneca hatte sich gefasst. »Du fragst mich, ob ich den Mann, der mich auf Anordnung seiner buhlerischen Messalina in das Exil nach Korsika schickte, für einen gerechten Herrscher halte? Verzeih, Marcus Valerius, falls ich deine Loyalität verletze, aber ich kann dem alten Narren keine Träne nachweinen. Im Gegenteil!« Er stand auf und ging zu einem Schreibtisch, auf dem mehrere Manuskripte lagen.
»Ich werde ihm nach seinem Tod das Denkmal setzen, das er verdient.« Er reichte Valerius eine Schriftrolle. »Das ist mein Nachruf!«
»Was ist das?«, fragte Valerius ratlos.
»Eine satirische Geschichte«, lachte Seneca. »Stell dir folgende Situation vor: Der Unselige kommt in den Olymp, und die Götter beraten darüber, ob er eines Sitzes dort würdig ist. Sein göttlicher Vorfahre, der Cäsar Octavianus Augustus hält das Plädoyer:
Seht diesen Menschen; so jammervoll er auch aussieht, so hat er
dennoch grauenhafte Morde auf seinem Gewissen! Ich weine über
die Schande, die er meinem Hause angetan
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