Akte Atlantis
Obsidian ist ein vulkanisches Glas, das bei einer jähen Abkühlung glutflüssiger Lava entsteht. Viele tausend Jahre lang hat es der Mensch zur Herstellung von Messern, Pfeil- und Speerspitzen verwendet. Obsidian ist sehr spröd. Es wäre schon eine bemerkenswerte Leistung, wenn ein derartiges Kunstwerk in, sagen wir, anderthalb Jahrhunderten hergestellt worden wäre, ohne dass der Werkstoff geborsten oder zersprungen ist.«
Pitt warf einen Blick auf die am Sitz festgeschnallte Kiste.
»Schade, dass du ihn dir nicht anschauen kannst, St. Julien.«
»Nicht nötig. Ich weiß, wie er aussieht.«
Pitt roch Unrat. Perlmutter war bekannt dafür, dass er einen gelegentlich zum Narren hielt und so tat, als wäre er allwissend.
Doch Pitt musste sich wohl oder übel darauf einlassen. »Du musst ihn dir mit eigenen Augen ansehen, sonst hast du überhaupt keine Vorstellung davon, wie schön er wirklich ist.«
»Ach, habe ich dir das etwa nicht gesagt, mein Lieber«, versetzte Perlmutter mit gespielter Unschuld, »ich weiß, wo noch einer steht.«
11
Die Cessna Citation Ultra V setzte auf der östlichen Landebahn der Andrews Air Force Base auf und rollte zu den Hangars, die von der Luftwaffe an diverse Bundesbehörden verpachtet wurden. Die Hallen der NUMA befanden sich im nordöstlichen Teil des Geländes. Ein türkisfarbener Kleinbus mit zwei Wachmännern der NUMA, die Giordino zu seiner Wohnung in Alexandria, Virginia, und Pat zu dem sicheren Haus bringen sollten, in dem ihre Tochter untergebracht war, erwartete sie bereits.
Pitt trug die Holzkiste mit dem Obsidianschädel aus der Maschine und stellte sie draußen vorsichtig auf den Boden.
»Kommen Sie nicht mit?«, fragte Pat.
»Nein, ich werde abgeholt.«
Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Von einer Freundin?«
Er lachte. »Von meinem Patenonkel, ob Sie’s glauben oder nicht.«
»Nie und nimmer«, versetzte sie schnippisch. »Wann sehen wir uns wieder?«
Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Früher als Sie meinen.«
Dann schlug er die Tür zu und schaute dem Kleinbus hinterher, der auf das große Tor an der Hauptzufahrt des Luftwaffenstützpunktes zuhielt. Anschließend ließ er sich nieder und lehnte sich an das Fahrwerk der Maschine, deren Piloten sich ebenfalls empfahlen. Er musste nur zehn Minuten warten, bis ein sehr elegantes, grün und silbern lackiertes Automobil auf leise surrenden Reifen neben ihm anhielt.
Das Chassis des Rolls-Royce Silver Dawn war 1955 unmittelbar vom Fließband an die Karosseriebaufirma Hopper & Company geliefert worden, wo man ihm einen Aufbau mit anmutig fließenden Linien und Schürzen an den hinteren Kotflügeln zurechtschneiderte. Mit seinem Sechszylindermotor mit oben liegender Nockenwelle und einem Hubraum von 4,3 Litern erreichte der Wagen eine Geschwindigkeit von bis zu hundertvierzig Kilometern die Stunde, ohne dass man mehr als das Schnurren der Reifen hörte.
Hugo Mulholand, St. Julien Perlmutters Chauffeur, stieg auf der Fahrerseite aus und streckte die Hand aus. »Was für eine Freude, Sie wiederzusehen, Mr. Pitt.«
Pitt grinste und schüttelte dem Chauffeur die Hand. Die Begrüßung war alles andere als herzlich, doch Pitt störte sich nicht daran. Er kannte Hugo seit über zwanzig Jahren.
Perlmutters Chauffeur und Adlatus war ein herzensguter und zuvorkommender Mensch, aber er hatte die gleiche versteinerte Miene wie einst Buster Keaton, lächelte selten und ließ sich so gut wie nie zu einer freundlichen Geste herab.
Er nahm Pitts Seesack und legte ihn in den Kofferraum des Rolls, trat dann zurück, als Pitt die Holzkiste behutsam daneben stellte. Danach öffnete Mulholand die hintere Tür und nahm Haltung an.
Pitt schlüpfte in den Wagen und ließ sich auf dem Rücksitz nieder, der zu zwei Dritteln von St. Julien Perlmutter in Beschlag genommen wurde. »St. Julien, du wirkst frisch wie ein Fisch im Wasser.«
»Eher wie ein Pottwal.« Perlmutter ergriff Pitts Hand und küsste ihn auf beide Wangen. Der massige Mann trug einen Panamahut auf seinem grauen Haar. Er hatte ein rotes Gesicht, eine Knollennase und himmelblaue Augen. »Lang, lang ist’s her. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit diese hübsche Asiatin von der Einwanderungsbehörde in deiner Hangarwohnung ein Abendessen für uns gekocht hat.«
»Julia Maria Lee. Das muss ziemlich genau ein Jahr her sein.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Julia hatte einen Auftrag in Hongkong, als ich das letzte Mal von ihr gehört
Weitere Kostenlose Bücher