Akte Mosel
zu schlafen.«
»Außer Jo gönne ich dir alle Männer, die dir gefallen. Apropos Jo, er meinte, er könne etwas zur Sicherung deiner Balkontür tun. Er wird sich wohl nachher melden.«
»Ich glaube, ich werde noch ein wenig laufen, ich habe schon Entzugserscheinungen.«
»Paß’ auf dich auf!« Marie umarmt Doris.
Doris trabt vom Parkplatz am Wildpark bergauf am Zaun des Wildschweingeheges entlang. Ein penetranter Geruch schlägt ihr entgegen. Ein paar Viecher liegen behäbig in einer Sandkuhle und würdigen sie keines Blickes.
Ihr Lauftempo steigert sich. In den letzten Tagen hat sich Energie angestaut, die sich jetzt entladen kann. Tannennadeln machen den Weg weich. Der Zaun endet, und es geht leicht bergauf durch einen Buchenwald auf ein Plateau. Irgendwo jault eine Motorsäge. Rechts öffnet sich ab und zu das dichte Grün und gibt einen Blick über die Mosel auf die Höhenzüge des Hunsrücks frei. Doris denkt an Waldes Jugendstiltreppenhaus mit Delfter Kacheln, dann die Wohnung, alte Holzdielen, tolle Bilder, nicht zu viel möbliert, aber auch nicht zu wenig. Das leere Zimmer hat wohl Anna bewohnt. Das Geräusch der Motorsäge nervt. Es kommt auf einmal sehr laut von hinten. Doris schaut sich um. Ein Motorrad braust mit hoher Geschwindigkeit heran. Der Fahrer macht keine Anstalten, abzubremsen. Doris weicht zum Wegrand aus und bleibt stehen. Der Fahrer stellt sich auf und hält etwas Knüppelähnliches in der Hand. Doris wirft sich auf die Böschung. Über ihr zischt es durch die Luft. Das Motorrad, es ist ein Crossrad, wird ein Stück weiter abgebremst. Noch bevor der Fahrer die Maschine wendet, sprintet Doris vom Weg ab bergauf zwischen Bäumen und Gebüsch hindurch. Als sie sich umblickt, bemerkt sie, daß die Maschine ihr folgt. Sie spürt das Adrenalin bis in die Haarspitzen schießen. Sie kennt diesen Wald, in dem sie schon hunderte Male gejoggt ist. Ein Stück weiter ist unwegsames Gelände mit umgestürzten Bäumen. Das Motorengeräusch hinter ihr wird schnell lauter. Buschwerk kratzt an ihren Beinen. Mit den Händen schlägt sie Äste zur Seite. Hinter ihr heult der Motor auf. Sie überspringt die ersten Stämme. Der Verfolger umkurvt die Hindernisse und ist bald nur noch wenige Meter hinter ihr. Die Erde ist durch den Regen aufgeweicht. Sie rutscht aus, fängt sich gerade noch. Das Springen raubt ihr weitere Kräfte. Bergan hat sie vielleicht eine Chance. Es wird steil. Sie muß auf allen Vieren krabbeln. Dicht hinter ihr verstummt der Motor. Blitzschnell wendet sie den Kopf. Der Fahrer setzt ihr zu Fuß hinterher.
Doris rudert heftig mit den Armen. Sie greift nach Ästen und zieht sich daran nach vorn. Ihre Oberschenkel fühlen sich so hart und schwer an, als wären sie mit Bleiplatten umwickelt.
»Wart’ nur, du Dreckstück!« flucht der Verfolger, er hört sich nicht so nah an, daß sie sich umschauen muß.
Oben stößt sie auf einen Waldweg. Sie schaut zurück. Der Abstand hat sich deutlich vergrößert. Der Kerl wirkt ein wenig korpulent, wie er sich den Hang heraufarbeitet. Unter den verschwitzten Haaren erkennt sie das Gesicht -es ist Schorsch, Räumers Mann vom Pferdehof. Beim Spurt über den ebenen Weg mobilisiert sie die letzten Kräfte. Wie viel Meter hält sie noch durch, 200, 300? Wenigstens noch bis zur nächsten Kurve. Dort schaut sie sich um. Der Verfolger ist nicht zu sehen. Hat er aufgegeben, versucht er, ihr den Weg abzuschneiden? Läuft er zurück zum Motorrad? Oder beobachtet er sie aus einem Versteck heraus?
Sie verläßt den Weg und rutscht bergab in einen jungen Tannenwald. An einer dichten Stelle bleibt sie stehen, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt und die Arme in die Leisten gestemmt. Ihr Puls rast. Ihr Keuchen ist bestimmt im ganzen Wald zu hören. Es hindert sie, nach Motorengeräuschen zu lauschen. Wie gerne würde sie sich auf den weichen Waldboden sinken lassen. Sie muß weiter. Der Hang ist steil. Ein Stück rutscht sie bäuchlings, mit den Füßen und Händen bremsend, hinunter. Unten findet sie einen Ast, den sie über dem Knie entzweibricht. Ein Weg taucht auf. Doris kauert sich hinter einen Holzstoß und späht nach beiden Seiten. Ihr gelbes T-Shirt hat an mehreren Stellen den Ton des Waldbodens angenommen. Beine und Arme sind verschrammt, blutig und verdreckt. Überall juckt ihre Haut von den Tannennadeln. Gebückt huscht sie auf die andere Seite. Ein ohrenbetäubender Lärm läßt sie zusammenzucken. Sie wirft sich hinter einen Holzstoß.
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