Alanna - Das Lied der Loewin
eine Verschnaufpause. Als Herzog von Conté zurückkehrte, war sein sonst so ordentliches Haar zerzaust, und auf einer Seite seines Gesichtes trug er eine blutige Schramme.
»Sie haben ihre Boote bestiegen«, sagte er und zog eine Grimasse. »Wir können nicht folgen; vergesst nicht, was mein Onkel befohlen hat.«
Die Männer begannen sich zu zerstreuen, um sich um die
Verwundeten und die Toten zu kümmern. Alanna blieb, wo sie war. Unruhig rutschte sie in ihrem Sattel hin und her. Es war an der Zeit, nach einem ganz bestimmten Mann zu suchen. Ein scharfer Schmerz, der ihr fast die Besinnung raubte, fuhr ihr durch die Schulter. Er ging von einer an ihrem Arm hinunterlaufenden tiefen Schnittwunde aus. Sie war verwundet worden, ohne es zu merken. Die Wunde musste rasch verbunden werden, aber zuvor hatte sie noch etwas anderes zu erledigen. Sie entdeckte den Wachhauptmann zwischen den Heilern und den Verwundeten und ritt zu ihm hinüber.
»Wo ist der Mächtige Thor?«, fragte sie ohne Umschweife.
Der grauhaarige Mann sah zu ihr hoch. »Ich fürchte, ihm ist etwas zugestoßen, Knappe Alan. Ich habe nach ihm gesucht ...« Er deutete auf das Schlachtfeld. »Er ist nicht zu finden, weder tot noch lebendig. Gerade als das Ganze anfing, kam Jem Tanner mit’ner Beule am Schädel ins Lager gewandert. Er sagte, Thor habe ihn bewusstlos geschlagen.«
Alanna betrachtete Moonlight, die von dem Blutgeruch, der von den Verwundeten aufstieg, unruhig wurde. »Jem Tanner hat den Mächtigen Thor beschuldigt zum Feind übergelaufen zu sein?« Der Hauptmann nickte grimmig. »Ich glaube ihm nicht. Ich kenne Thor; er dient schon seit fünf Jahren unter mir. Thor ist kein bisschen falsch. Ganz im Gegensatz zu Jem Tanner.«
Alanna runzelte die Stirn. »Finde Jem Tanner und setz ihn hinter Schloss und Riegel. Ich befehle es.«
Der Hauptmann verneigte sich. »Zu Befehl, Knappe Alan.«
Alanna sah zu den Bäumen und hielt sich ihren verwundeten Arm. Hätte sich Thor tatsächlich zum Feind geschlagen, dann hätte sie es inzwischen schon erfahren. Vielleicht
war es nicht Jem, sondern Thor gewesen, an dem man Verrat begangen hatte? Sie überlegte krampfhaft. Wo würde sich Thor hinwenden, falls er benommen und verwundet war? In die Richtung des Lagers – vielleicht am Flussufer entlang?
Sie drängte Moonlight zur Landzunge hin, wo noch mehr verwundete und sterbende Männer am Boden lagen. Thor würde man schon an seiner Größe erkennen. Er war nicht dabei. Aufmerksam suchte sie den Boden ab, bis sie fand, wonach sie Ausschau hielt. In der Nähe der Stelle, wo die Wachen gewöhnlich Posten bezogen, war etwas Schweres hinunter zum Fluss gezerrt worden. Sie lenkte Moonlight den Hang hinab bis zum Wasserrand, wo sie eine Gruppe von Büschen entdeckte, neben denen die Schleifspur aufhörte. Moonlight roch an dem dunklen Fleck auf der Erde und scheute. Alanna stieg mühsam ab, hob ein wenig von der dunkel gefärbten Erde auf und roch daran. In letzter Zeit war ihr dieser Geruch nur allzu vertraut geworden: Es war der Geruch von Blut.
Plötzlich wurde ihr schwindlig. Sie packte Moonlights Mähne und versuchte krampfhaft, sich gerade zu halten. Sie biss die Zähne aufeinander, holte sich die Branntweinflasche aus der Satteltasche und nahm einen großen Schluck. Sie musste husten und spucken von dem scharfen Alkohol, aber ihr Kopf wurde wieder klar. Sie steckte die Flasche weg und dachte nach. Thor war verletzt, so viel war klar. Falls das hier sein Blut war, musste er schwer verwundet sein, und sie durfte keine Zeit verlieren. Sie schloss die Augen und fühlte in sich hinein, um das Feuer ihrer Gabe hervorzuholen. Sie öffnete die Hand und ließ ihre Zauberkraft in die Handfläche fließen, bis sie ein leuchtendes, weiß-purpurnes Licht
verstrahlte. Sie öffnete die Augen und nickte mit grimmiger Genugtuung. Das Licht, das von ihrer Hand ausging, war weit heller als jede Fackel, und um sie herum war alles strahlend hell erleuchtet. Von der Anstrengung brummte ihr der Kopf, aber sie hielt sich aufrecht. Wenn sie Thor erst mal gefunden hatte, hatte sie noch genug Zeit zusammenzuklappen.
Die Fußstapfen, die als dunkle Löcher vor ihr in der Erde zu erkennen waren, führten, wie sie vermutet hatte, am Fluss entlang in Richtung Norden und zum Lager. Mit ihrer freien Hand zog Alanna an Moonlights Zügeln und führte die Stute vorwärts, während sie sich bemühte die Spuren nicht zu verlieren. Einmal hielt sie an, um ihren Arm zu verbinden. Sie
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