Alanna - Das Lied der Loewin
trotzdem – was kann Alan für dich tun? Er ist doch nur eine halbe Portion.« Gary grinste Alanna entschuldigend an, und sie zuckte mit den Achseln. Langsam gewöhnte sie sich an solche Bemerkungen. »Und wenn ich mich nicht irre, dann bist du der Mann, den der Oberste Richter liebend gern zwischen die Finger kriegen würde.«
Georg nickte voller Respekt. »Ganz schön clever, Meister Gary. Also gut – ich bin der, den man den König der Diebe, den Herrscher am Hof der Schurken nennt. Die Schurken«, erklärte er, zu Alanna gewandt, »das sind all jene, die ihren Lebensunterhalt mit ihrem schlauen Köpfchen verdienen. Sie werden von einem König regiert – und im Augenblick bin das ich. Manchmal nennt man mich auch schlicht und einfach ›den Schurken‹. Aber in so einem Königreich währt die Herrschaft nicht besonders lang. Wer weiß, wann mir irgendein junger Kerl das antut, was ich vor sechs Monaten dem vorherigen König angetan habe? Wenn es so weit ist, brauche ich Freunde.« Er zuckte die Achseln. »Na ja, es wird nicht so bald dazu kommen. Und bis dahin – warum einem geschenkten Dieb ins Maul schauen? Denjenigen, die ehrlich mit mir sind, kann ich ein guter Freund sein.«
Gary musterte ihn und nickte. »Ich mag dich – auch wenn du ein Dieb bist.«
Georg lachte. »Und ich mag dich, Gary – auch wenn du ein Edler bist. Wir sind also Freunde?«
»Wir sind Freunde«, sagte Gary entschlossen. Sie schüttelten sich über den Tisch hinweg die Hände.
»Und du, Alan?«, fragte Georg. Alanna hatte sich das alles angeschaut und überlegt, doch man sah ihr nicht an, was sie dachte. Würde Georg, der ja die Gabe besaß, ihr Geheimnis erraten? Dann fiel ihr ein, was Maude ihr beigebracht hatte: Wenn man die Gabe besaß, schützte einen das vor dem hellseherischen Blick eines anderen, der ebenfalls die Gabe hatte. Im Augenblick würde Georg ihr Geheimnis also nicht erraten können. Und selbst wenn, vermutete Alanna, dann würde ein Dieb ohne guten Grund nicht einmal seiner Mutter verraten, wie spät es ist.
»Ich hätte gern noch ein bisschen Limonade«, sagte sie und goss sich ihren Krug voll. »Die Gabe ist dir sicher sehr hilfreich.«
»Sie hat mir mehr als einmal aus der Patsche geholfen«, gab Georg zu. »Sie hilft mir meine Schurken im Auge zu behalten, also halte ich mich unter Umständen länger aus als der König vor mir.« Er trank seinen Krug leer und stellte ihn ab. »Ihr braucht euch nicht um eure Taschen zu sorgen oder um die eurer Freunde, die ihr mitbringt. Aber passt auf, wen ihr anschleppt. Ein Wort von ihnen und mein Oberster Richter schnappt sich mit Sicherheit meinen Kopf.«
»Wir werden aufpassen«, versprach Gary. »Mach dir keine Sorgen um Alan. Er hält den Mund.«
Georg grinste. »Das sehe ich. Kaum einer von den Kerlen – nicht einmal einer von denen, die dem Schurkenring angehören – könnte sich all dies anhören, ohne ein Wort dazu zu sagen. Na gut. Ihr macht euch jetzt besser auf den Rückweg. Wenn ihr etwas braucht, dann gebt mir durch Stefan Bescheid – er arbeitet in den Ställen vom Palast. Ihr werdet mich meistens hier finden, und wenn nicht, dann
fragt den alten Solom.« Er deutete mit dem Daumen auf den Wirt. »Er wird mich sofort holen.«
Alanna erhob sich. Sie und Gary schüttelten ihrem neuen Freund die Hand. »Wir sehen uns bald wieder«, versprach Alanna. »Hab noch einen schönen Tag.«
Die beiden Pagen schlenderten auf die Straße hinaus. Der König der Diebe sah ihnen nach und lächelte.
Einige Wochen später ließ Herzog Gareth Alanna aus ihrer Mathestunde rufen. Verstört machte sie sich auf den Weg zu ihm.
Er überreichte ihr einen Brief. »Kannst du mir das erklären?«
Alanna überflog das mit vielen Klecksen übersäte Pergament. Es war von ihrem Vater.
Der Brief war kurz und es stand bloß darin, er hoffe, Thom möge sich weiterhin gut anstellen.
Glücklicherweise hatte sie sich eine Geschichte zurechtgelegt. Sie sah auf, zuckte die Achseln und schaute ein wenig traurig drein.
»Wisst Ihr, er erinnert sich nicht. Ich glaube nicht, dass er meinen Bruder und mich jemals auseinanderhalten konnte.« Sie überkreuzte die Finger hinter ihrem Rücken und wagte eine Vermutung zu äußern. »Ich glaube nicht einmal, dass er Seine Majestät jemals von unserer Geburt unterrichtet hat.«
Der Herzog überlegte und nickte dann. »Du hast recht – das hat er tatsächlich nicht getan. Er hat sich nicht geändert.« Er seufzte. »Ich
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