Alanna - Das Lied der Loewin
sie sich zum Gehen wandte, hielt er sie zurück. »Einen Augenblick bitte, Alan.«
Alanna setzte sich in den Sessel, auf den er deutete, und überlegte, was er wohl von ihr wollte.
Der Ritter zündete die Kerzen in einem Leuchter an und stellte ihn auf einen Tisch, der zwischen seinem Sessel und dem Alannas stand. Er schenkte sich ein Glas Brandy ein und deutete mit dem Kopf auf eine Schale mit Früchten. »Bedien dich. Ich werde versuchen, dich nicht allzu lange von deinem Abendessen fernzuhalten.«
»Danke, Herr.« Alanna nahm sich eine Orange und begann sie zu schälen.
»Ralon hat es auf dich abgesehen, wie?«
Alanna erstarrte. »Ich weiß nicht, was Ihr meint, Herr.«
»Sei nicht so verschlossen, Alan.«
»Wie bitte?«
»Versuch nicht, etwas vor mir zu verheimlichen, was wir beide genau wissen. Ich sehe vieles von dem, was hier vor sich geht. Das ist einer der Gründe, warum ich so viel trinke.
Und ich sehe, wie Ralon dich tyrannisiert, wenn du alleine oder mit den kleineren Jungs zusammen bist.«
Alanna zuckte die Achseln. »Ich bin kein Weichei und auch keine Petze.«
»Meinst du, die anderen Jungs würden dich nicht mehr respektieren, wenn du etwas sagen würdest? Prinz Jonathan wäre der Erste, der deine Partei ergriffe.«
Alanna fühlte sich sehr unbehaglich. »Ich muss diese Sache selbst regeln.«
Myles schüttelte den Kopf. »Was willst du denn damit beweisen?«, fragte er. Sie gab keine Antwort. Bitter fuhr er fort: »Unser Ritterkodex ist wirklich eine feine Sache. Man bringt uns bei, ein Edler müsse alles über sich ergehen lassen, ohne sich zu beklagen. Ein Edelmann muss alleine zurechtkommen. Tja – aber wir sind nun mal Menschen, und der Mensch ist nicht dafür geboren, alleine zu sein.«
»Edle schon«, entgegnete Alanna. »Zumindest bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ist das nicht dasselbe?«
Myles schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht dasselbe.« Er seufzte. »Früher oder später wirst du gegen ihn kämpfen müssen.«
»Ich weiß, Herr.«
»Alan, er ist viel größer und schwerer als du! Er wird dich umbringen!«
Alanna legte die Orange weg. »Dann wehre ich mich so lange, bis er mich in Ruhe lässt oder bis ich stark genug bin ihn zu besiegen. Ich kann nicht zulassen, dass er mich weiter so schikaniert, Sir Myles! Wenn man ...« Entsetzt brach sie ab. Fast hätte sie zugegeben, dass sie ein Mädchen war! Rasch fuhr sie fort: »Wenn man so klein ist wie ich, hat man nur zwei Möglichkeiten: Man kann klein beigeben und wird
unentwegt weiter terrorisiert. Oder man wehrt sich dagegen. Ich muss mich dagegen wehren.«
Myles zog ein Gesicht. »Geh zu deinem Abendessen.« Sie erhob sich. »Alan!«
»Ja, Herr?«
»Wenn du zuschlagen musst, dann schlag tief.«
Sie grinste und verneigte sich. »Danke, Sir Myles. Das werde ich mir merken.«
Am nächsten Tag in den Ställen war es so weit. Alanna versorgte gerade Chubby; die anderen waren schon alle weg. Sie träumte von dem Pferd, das sie eines Tages besitzen würde, als sie die Stalltür knarren hörte. Ein hässliches Grinsen verzerrte Ralons Gesicht. »Du meinst wohl, mit unserer gestrigen Unterhaltung sei die ganze Sache erledigt, was?«
Alanna zitterte vor Aufregung. »Nein, das meine ich nicht«, sagte sie geradeheraus.
Ralon stolzierte um sie herum und musterte ihre zierliche Gestalt. »Deine Reithosen sind verdammt groß für dich. Wenn du keinen Raoul oder keinen Gary hast, hinter dem du dich verstecken kannst, dann bist du ’ne ziemlich kleine Nummer, hab ich recht?«
Sie ballte die Fäuste. »Ich versteck’ mich hinter niemandem! Und ich piesacke auch keinen, der kleiner und jünger ist als ich, nur um zu beweisen, was für ein klasse Typ ich bin!«
Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Das brauche ich mir von dir nicht gefallen zu lassen, du dreckiger kleiner Mistkerl!«
Sie schlug tief und kräftig zu. Ralon krümmte sich vornüber und hielt sich die Hände vor den Unterleib. Mit geballten
Fäusten und gespreizten Beinen wartete sie. »Das nimmst du zurück! Wenn nicht, dann stopf ich dir eine Ladung Mist ins Maul – wo du den so gern magst!«
Glücklicherweise sah sie keiner, als sie zurückkam. Alanna schloss ihre Tür und verriegelte sie. Den Kopf hielt sie gesenkt. Coram hatte ein Bad für sie vorbereitet.
»Heilige Mutter der Dunkelheit«, flüsterte er, als er sie sah. »Was ist passiert?«
Sie sah in den Spiegel. Ihre Uniform war total verdreckt und voller Blut. »Ich bin
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