Alanna - Das Lied der Loewin
ziehen, nur weil ich in ihrem Zimmer war.«
Er ließ eine Münze für sein Essen liegen und schlenderte hinaus, während Coram das Gesicht in den Händen vergrub. »Es gab Zeiten, da war das Leben so einfach«, murmelte er.
Trusty hüpfte auf den Tisch, um an Liams Teller zu schnuppern. Aber vermutlich auch langweiliger.
Nachdem Coram bis mittags Botengänge erledigt hatte, fand er bei seiner Rückkehr Alanna vor, die sich mittlerweile angezogen hatte und ihre Waffen reinigte. »Mach kein so finsteres Gesicht«, sagte sie. »Ich bin noch nicht richtig wach.«
»Das Zimmermädchen sagt, deine Kleider seien schlammverschmiert gewesen. Was für ’nen Blödsinn hast du denn heute Nacht, wo ich dich mal aus den Augen gelassen hab, wieder angestellt?«
»Gar keinen«, gähnte sie. »Ich konnte nicht schlafen, also hab ich einen Ausritt gemacht.«
»Unterm Bauch von deinem Gaul?«
Alanna spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Die Sache ist mir so peinlich, dass ich nicht darüber reden kann.«
So leicht ließ sich Coram nicht abspeisen. »Hat das vielleicht was damit zu tun, dass dieser Liam heute früh in deinem Zimmer war?«
»Ich wurde müde und fiel von meinem Pferd«, sagte Alanna. »Liam habe ich unterwegs getroffen – er hat dafür gesorgt,
dass ich sicher nach Hause kam. Er hat mich nicht angerührt.«
»Möglich«, grollte Coram, der inzwischen so rot war wie sie. »Aber das kommt vielleicht noch.«
Während er die Tür schloss, hörte er Alanna murmeln: »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.«
Sie trafen beim Haus Jendrai ein, als die Sonne den Horizont berührte. Nahom Jendrai kam sie höchstpersönlich begrüßen. Alanna hatte erwartet, dass er vom gleichen Schlag sein würde wie Myles von Olau: still, nachlässig gekleidet und geistesabwesend. Stattdessen stand vor ihnen ein gepflegter Mann Anfang dreißig, der umgeben war von Kindern, Bediensteten, Packtieren, Hunden und Gepäck. Er winkte Coram zu und bahnte sich einen Weg durch das Chaos.
»Meine Frau hätte Euch gerne empfangen, Lady Alanna und Meister Smythesson, aber sie hat erst kürzlich ein Kind geboren und ruht sich aus. Unser sechstes«, erklärte er mit einem Lächeln. »Ein Mädchen.« Er nahm ihre Glückwünsche mit einer Verbeugung entgegen und fügte hinzu: »Das geschäftige Treiben müsst Ihr entschuldigen – unser Gepäck kam erst heute Nachmittag an.« Er führte sie ins Haus. »Ich freue mich, dass ich der Tochter von Myles behilflich sein kann. Ohne ihn wäre ich ein Adliger wie alle anderen, der sich um seine Ländereien kümmert, sich Sorgen macht, wie der König zu ihm steht, und Ränke schmiedet, um am Hof Macht zu erlangen. Meine Frau verwaltet das Lehnsgut – besser, als ich es jemals könnte –, und die einzigen Könige, mit denen ich mich abgebe, sind schon seit Hunderten von Jahren tot. Das verdanke ich Myles. Er war der beste Lehrer, den ich je hatte. Ein großartiger Kopf!«
Alanna nahm Trusty, der sich in der Halle auf ein Wortgefecht mit einem Hund eingelassen hatte, auf den Arm. »Ihr wart also einer von Myles’ Schülern?«
»Sechs Jahre lang.« Jendrai führte sie in ein Zimmer, das nur von der untergehenden Sonne beleuchtet wurde. »Hier ist es zu dunkel, denke ich.« Er machte sich erfolglos auf die Suche nach Feuerstein und Stahl. »Ich habe den Mägden weisgemacht, ich hielte mir hier Dämonen, damit sie mir nichts durcheinanderbringen. Unglücklicherweise zündet mir dadurch auch keine die Kerzen an.«
Alanna lachte – jetzt erinnerte er sie an Myles. Sie deutete auf die Holzscheite an der Feuerstelle und ließ ihre Gabe als violettfarbenen Funkenregen auf sie niedergehen, bis sie Feuer fingen. Dann scheuchte sie die Flammen mit schnellen Gesten von dort zu den Kerzenleuchtern.
Angeberin! schimpfte Trusty.
Alanna sah ihn überrascht an. »Ich bin keine Angeberin. So ist es praktischer.«
Vor einem Jahr noch hättest du umständlich eine Kerze nach der anderen angezündet und eine Ewigkeit dafür gebraucht, erklärte der Kater.
Alanna wurde rot. »Vor einem Jahr war ich noch anders.«
»Plaudern die beiden immer so?«, erkundigte sich Nahom Jendrai bei Coram.
»Oft genug.« Coram reichte ihm die Karte.
Jendrai breitete das Pergament auf dem Tisch aus und studierte es eine Weile. Schließlich fragte Alanna: »Sollen wir wiederkommen, wenn Ihr Gelegenheit hattet, daran zu arbeiten?«
Überrascht sah er auf. Er hatte ihre Anwesenheit scheinbar vergessen. »Nein,
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