Alanna - Das Lied der Loewin
»Deine Schlafenszeit ist überschritten, Kleine. Ich reite bis zur Sarainer Grenze mit, welchen Weg ihr auch immer wählen mögt.«
Alanna warf Coram einen fragenden Blick zu. Er nickte. »Wir freuen uns, wenn du uns Gesellschaft leisten willst. Ich wollte schon immer lernen, wie die Shang zu kämpfen – und zwar ohne Waffen«, fügte sie hinzu.
Liam schüttelte den Kopf. »Du bist zu alt.«
Alanna sah in wütend an. »Erst nennst du mich ›Kleine‹ und dann sagst du, ich sei zu alt. Entscheide dich.«
»Und anschließend wird sie sich große Mühe geben, dir zu beweisen, dass du Unrecht hast«, scherzte Coram, während er Liam die Tür öffnete. Er kehrte zu seiner Herrin und
Ritterin zurück und zog seinen Stuhl ans Bett. »Ich mag ihn. Er wird nicht zulassen, dass du ihn bis aufs Blut quälst.«
Alanna machte sich an ihren Decken zu schaffen. »Du schaust mir nicht bis aufs Blut gequält aus.«
»Ich stell bloß ’ne tapfere Miene zur Schau«, neckte er sie. Ernster fuhr er fort: »Hast du dich entschieden, welche Richtung wir einschlagen wollen?«
»Ich würde Sarain gern auf direktem Weg durchqueren. Mit Banditen werden wir schon auf die eine oder andere Weise fertig.«
»Du willst deine Zaubergabe benutzen?«, fragte Coram verdutzt.
»Was ist dagegen einzuwenden?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich dachte, du vermischst das Kämpfen und das Zaubern nicht gern.«
»Ich will bloß vermeiden, dass einer von uns getötet wird. Den Heeren können wir aus dem Weg gehen, falls sich zu dieser Jahreszeit überhaupt welche im Hochland befinden. Wenn wir diesen Weg einschlagen, erreichen wir das Dach der Welt in nur fünf Tagesritten vom Chitral-Pass aus. Nehmen wir aber die Küstenstraße, müssen wir von Udayapur aus noch zwei Wochen lang nach Norden reiten. Was bedeutet, dass wir neun zusätzliche Tage im Gebirge verbringen müssen.« Alanna schauderte.
Coram überlegte, dann sah er sie an. »Ganz zu schweigen davon, dass du ’nen Ritt durchs Sarainer Hochland für spannender hältst.«
Alanna grinste. »Das kommt noch dazu.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Tust du mir einen Gefallen, Coram?«
»Kommt darauf an.« Langjährige Erfahrung hatte ihn vorsichtig gemacht.
»Erzähl mir eine Geschichte vom Juwel der Macht«, bat sie. »Ich hab sie fast alle vergessen.«
Er lehnte sich zurück. »Eine Geschichte? Es ist schon jahrelang her, dass du ’ne Geschichte hören wolltest. Welche ...? Ah ja.
Miache war eine Carthaker Hafendiebin, die vor dreihundert Jahren lebte. Gallaner heuerten sie an, damit sie dem König von Galla, einem Abkömmling von Giamo – genauer gesagt seinem Urenkel –, das Juwel stahl, weil sie selbst regieren wollten.
Miache stahl das Juwel – und behielt es für sich selbst. Sie floh zum Fluss Drell, demselben, der die Grenze zwischen Galla, Tusain und Maren bildete. Möglicherweise hätt sie es mit heimgenommen nach Carthak, wenn Zefrem nicht gewesen war, den man auch den ›Bär‹ nannte. Er war Söldner, und zwar ein guter, und fuhr gerade auf dem Fluss südwärts. Unterwegs gabelte er diese Miache auf. Schon bald waren die beiden ein Liebespaar. Sie war ein hübsches Ding, mit Haaren wie Moonlight und einem Herz aus Eis. Obwohl Zefrem das Herz ein bisschen angetaut hat.
Als sie die Stadt Tyra erreichten, griffen dort gerade die Seestreitkräfte von Carthak an. Die Stadtbewohner waren am Verhungern. Ihre Adligen hatten sich aus dem Staub gemacht; ihr Oberhaupt, ein Herzog, war nicht richtig im Kopf. Nur die Mauern hielten die Männer aus Carthak noch zurück, aber lange hätten die den Rammböcken nicht mehr standgehalten.« Trusty hüpfte aufs Bett und rollte sich neben Alanna zusammen, während sich Coram einen Humpen Bier einschenkte. Er trank einen mächtigen Schluck und fuhr fort.
»Nun hatte sich dieser Zefrem noch nie an ’ner Schlacht beteiligt, die nicht so aussah, als könnte man sie gewinnen,
und noch viel weniger an einer, die schon verloren war. Und Miache – die hätt ihrer eigenen Mutter beim Verhungern zugesehen, ohne ’nen Finger krumm zu machen, wenn für sie selbst nichts dabei rausgesprungen wäre. Alle, die die beiden kannten, sagten, es müsse das Juwel der Macht gewesen sein, das sie dazu brachte, in Tyra zu bleiben. Sie wussten nicht mal, wie man es benutzt, aber es sieht so aus, als hätte das Juwel sie benutzt.
Zefrem übernahm das Kommando, scharte die übrig gebliebenen Männer um sich und baute Katapulte, um damit
Weitere Kostenlose Bücher