Alasea 01 - Das Buch des Feuers
seiner Lampe hielt, »wenn die Kobolde wollen, dass wir diesen Weg gehen, was haben sie dann vor mit uns?« Eine Angst stieg in ihr auf, die sie bisher mühsam unterdrückt hatte. Nach allem, was seit dem gestrigen Sonnenuntergang geschehen war, glaubte sie die Antwort auf die Frage selbst zu kennen. Ihre Angst wurde noch durch die Besorgnis bestätigt, die in den Augen ihres Onkels aufleuchtete. Es war Elena, nach der die Kobolde verlangten.
Aber natürlich leugnete er das. »Schatz, man kann die Gedanken dieser sonnenlosen Geschöpfe nicht erahnen. Sehr wahrscheinlich haben sie einfach nur Unrecht im Sinn. Sie sind bekannt für ihre diebische Veranlagung und ihre Verschlagenheit.«
Obwohl sie seinen Worten nicht glaubte, nickte sie; Onkel Bol brauchte keine zusätzlichen Sorgen. Während sie den trockenen Klumpen in der Kehle wie einen alten Brotkanten hinunterschluckte, schenkte sie ihm sogar ein schwaches Lächeln.
Onkel Bol drängte sie sanft dem Schwertkämpfer hinterher. Er’ril war inzwischen die Stufen weiter hinuntergestiegen, so weit es der Laternenschein erlaubte. Dort, im letzten Lichtstrahl vor dem Meer aus Dunkelheit, war er stehen geblieben. Das Gesicht hatte er ihnen zugewandt, und ein verdutzter Ausdruck runzelte die sonst so glatten Gesichtszüge. Doch die Augen waren nicht auf Elena und Onkel Bol gerichtet, sondern starrten etwas dahinter an. »Da kommt etwas!« Sein Schwert deutete in die Dunkelheit.
Elena und Onkel Bol drehten sich blitzschnell um. Die Finsternis hinter ihnen hatte jetzt ein leuchtendes Auge. Ein Lichtfunke schwang in langsamen Drehungen suchend im Kreis.
»Wer…?« setzte Onkel Bol an.
Er’ril gebot ihm mit einem Zischen, er möge schweigen.
Das Auge aus Licht hörte auf zu kreisen und verharrte starr in der Mauer aus Dunkelheit, dann schoss es auf sie herab.
Er’ril huschte wie ein Geist neben Elena und schob sie zurück. Alle drei duckten sich an die Wand. Elena - geschützt von den beiden Männern - zuckte zusammen. Welcher neue Schrecken kam da auf sie zu?
Dann war es über ihnen. Elena schnappte nach Luft, nicht vor Angst, sondern vor Ehrfurcht. Ein Vogel, der in der Farbe von Sonnenschein auf Wasser erstrahlte, schwebte vor ihnen, die Flügel weit ausgebreitet und mit sanft schimmerndem Gefieder. Während seine Flügelschläge ihn näher brachten, spielten zarte Töne von Rosa und Kupfer auf seinen Federn. Er hing in der Luft vor ihnen, in unsichtbaren Luftströmungen aufsteigend und absinkend, mit geschmeidigen Flügeln auf der Dunkelheit reitend. Augen wie kohleschwarze Kieselsteine musterten die Gefährten, die sich an die Wand drängten.
»Erstaunlich!« sagte Onkel Bol mit gedämpfter Stimme. »Ich dachte, sie seien hierzulande längst ausgestorben.«
Er’ril hatte das Schwert immer noch in Richtung des Vogels erhoben und schien weiterhin auf Vorsicht bedacht. »Was ist das? Irgendein Höhlenvogel?«
»Nein, ein Geschöpf der oberen Welt. Es fängt das Mondlicht in seinem Gefieder ein, wodurch es genügend Licht hat, um in der dunkelsten Nacht zu jagen.«
»In all den Jahrhunderten meiner Reisen habe ich vieles gesehen, aber so etwas noch nie.«
»Es stammt aus einer Zeit vor der deinen, Er’ril, lange bevor selbst deine ältesten Vorfahren auf dieser Welt weilten.«
»Und was ist das, Onkel?« fragte Elena. Inzwischen befürchtete sie keine Gefahr mehr. Die Männer hatten ihre Abschirmung gelockert und ihr erlaubt, sich zwischen ihnen weiter nach vorn zu schieben, um sich den Vogel genauer anzusehen, während dieser weiterhin über der Schlucht schwebte. Sie stand am Rand der Stufe - allerdings eingedenk der Warnung ihres Onkels nicht zu nahe.
»Ich glaube, das ist ein Mondfalke. Ich habe bisher lediglich Beschreibungen von ihnen auf zerknitterten alten Pergamenten gesehen.« Der Onkel sprach in einem entrückten Ton, als ob er tief in seinem Innern nach etwas suche. »Es gibt Texte, in denen die Natur der Tiere als ruhmreich und edel beschrieben wird, während andere in ihnen einen Satan und ein böses Omen sehen.«
Ihr Onkel dozierte weiter, doch Elena hörte kaum mehr als den Namen des Vogels - Mondfalke. Angezogen von seiner Schönheit, streckte sie die Hand über die Kante der Stufe. Hätte sie doch nur einen Brocken Brot gehabt, um den Vogel anzulocken, wie sie es mit den dicken Gänsen auf dem Teich in der Nähe von Ahornseck zu tun pflegte! Oder vielleicht ein Stück Fleisch, berichtigte sie sich, denn seinem gebogenen Schnabel und den
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