Alasea 01 - Das Buch des Feuers
ganz für sich allein etwas zu entdecken. Sie hatte in der Landschaft des Vorgebirges viele herrliche Plätze ausfindig gemacht: ein Kaninchengehege, wo ihr die Weibchen und Männchen frei aus der Hand fraßen; einen Ameisenhügel, der ihr bis zum Kopf reichte; einen vom Blitz getroffenen Baum, der im Innern hohl war; ein Gelände mit flechtenüberzogenen Steinen, die zu einem längst aufgegebenen Friedhof gehörten. Oft kehrte sie dorthin zurück, erschöpft von einem anstrengenden Tag, von Dornen zerkratzt und mit Schlamm beschmutzt, ein breites Lächeln im Gesicht.
Jetzt hatte Elena die Stirn gerunzelt und ging langsamer, als sie sich der Hintertür näherte.
Sosehr sie auch ihre Erkundigungen genoss, so entging ihr doch die Unzufriedenheit nicht, die sich in letzter Zeit in ihr Herz geschlichen hatte. Sie ertappte sich dabei, dass ihre Augen auf fernen Horizonten verweilten. Ihre Hände juckten von etwas, das sie nicht zu benennen wusste. Es war, als ob sich ein Gewitter in ihren Knochen zusammenbraute und schon bald herausbrechen wollte.
Elena stieg die hintere Treppe hinauf. Als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, fiel ihr Blick auf den roten Schimmer ihrer befleckten Hand, die von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. Und jetzt auch noch das! Was hatte das zu bedeuten? Ihre Finger zitterten, während sie über dem Messinggriff verharrten. Zum ersten Mal empfand sie die wahre Tiefe und Ausdehnung der Fremdheit, die jenseits ihres Obsthains liegen mochte. Sie schloss die Augen; plötzlich hatte sie Angst.
Warum wollte sie überhaupt ihr Zuhause verlassen? Hier gab es Sicherheit und Geborgenheit, und sie war umgeben von all jenen, die sie liebten. Dieses Land war so angenehm wie getragener Flanell an einem kalten Morgen. Warum nach mehr suchen?
Während sie noch zitternd auf der Treppe stand, schwang die Tür plötzlich auf und drängte sie eine Stufe tiefer. In der Türöffnung stand hoch aufgerichtet ihr Vater und umklammerte Joachs Schulter mit seiner großen Hand. Beide Männer rissen vor Überraschung die Augen weit auf, als sie Elena auf der Treppe stehen sahen.
»Siehst du«, sagte Joach dümmlich, »ich habe dir doch gesagt, dass sie rechtzeitig nach Hause kommt.«
»Elena«, sagte ihr Vater, »du weißt, dass du nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allein draußen in den Obsthainen sein sollst. Du musst daran denken, dass…«
Elena stürzte sich in die Arme ihres Vaters.
»Mein Liebling!« sagte er, wobei er sie mit seinen kräftigen Armen umfing. »Was ist los?«
Sie begrub das Gesicht an der Brust ihres Vaters und wollte sich nie mehr aus seiner Umarmung lösen. Hier war ihr Zuhause - und das nicht nur wegen des strohbedeckten Dachs und des warmen Kamins.
2
Der Schimmer der Dämmerung vertiefte sich unter den dichten Zweigen der Obstbäume. Rockenheim zog sich den Umhang fester um die Schultern und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Die Nächte waren immer so schrecklich kalt in diesem verdammten Gebirgstal! Er hasste diesen Auftrag, mit dem ihn seine Vorgesetzten betraut hatten. Festgesetzt in einem hinterwäldlerischen Dorf von Bauerntölpeln - und dieser eisige Winter! Es ging doch nichts über das sonnenwarme Klima seiner Heimatinsel…
Während ein kalter Wind an seinem dünnen Umhang zerrte, erschien vor Rockenheims geistigem Auge das Bild seiner Heimat auf dem Archipel. Die Strände, die feuchte Hitze, die Sonnenuntergänge, die stundenlang dauerten, bis die rote Kugel im Ozean versank. Bei der Erinnerung an seine Heimat, die er vor so langer Zeit verlassen hatte, flüsterte ihm ein Hauch aus der Vergangenheit ins Ohr: langes blondes Haar und lachende Augen… und ein Name… ein Frauenname. Aber wer? Er versuchte, die Erinnerung fester zu packen, aber sie flatterte davon wie ein verängstigter Vogel. Was war es, das er da gerade zu vergessen schien? Dann zerrte eine eiskalte Windbö an seinem Reitmantel, und die frostige Berührung riss ihn aus seiner Träumerei. Rockenheim zog den vom Wind gepeitschten Stoff an den ungeschützten Hals.
Aus tiefster Kehle stieß er ein ungeduldiges Brummen aus, und dabei beobachtete er, wie der beinahe blinde Wahrsager mit einem Finger in einem Haufen sich abkühlender Asche neben einem umgekippten Apfelkorb stocherte. Der alte Mann hob die Nase in die nächtliche Brise, die zwischen den Reihen von Baumstämmen hindurchwehte, wie ein Jagdhund, der eine unsichtbare Fährte erschnuppert. Dann hob er den mit
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