Alasea 01 - Das Buch des Feuers
nachdenken.«
»Also, Hexe oder nicht, wirst du dem Kind etwas zuleide tun?«
Merik sah ihn an, warf einen Blick zu Tol’chuk hinüber und sprach dann: »Ich werde mein Schwert stillhalten - für den Augenblick.«
Tol’chuk klatschte in die Hände. »Gut. Gehen wir!«
Kral nickte und steckte seine Axt weg.
Merik machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Og’er. Kral betrachtete den Rücken des Mannes. Insgeheim summte sein Schädel immer noch vom Widerhall ferner Warnungen. Als Mann aus den Bergen, eins mit dem Fels, hatte er Merik auf die Probe gestellt, als der Elv’e versprochen hatte, die Hand nicht zu rühren, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sprach oder nicht. Was Ni’lahn zu Kral gesagt hatte, hatte sich als richtig erwiesen. Man konnte Merik nicht trauen.
Der Elv’e hatte gelogen.
32
Elena sog hörbar die Luft ein und wich zu der Wand aus behauenem Fels zurück, die Augen weit aufgerissen und den Blick auf die erwachende Statue gerichtet. Als ihre Schulter mit dem Stein in Berührung kam, flog der Mondfalke mit einem Kreischen von seinem Sitzplatz auf und flatterte davon. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er die Kammer verließ und in den Tunnel hineinflog, auf dem gleichen Weg entfliehend, den sie gekommen waren. Ein paar Kobolde stürzten sich auf den Vogel, doch ein durchdringendes Kreischen, das aus immer weiterer Ferne aus dem Tunnel hallte, verriet ihr, dass der Falke entkommen war.
Doch nicht einmal der Verlust ihres Vogels konnte ihre Aufmerksamkeit beeinträchtigen. Vor ihren Augen zerschmolz Kristallstein zu flüssigem Licht - zuerst der gemeißelte Kopf, dann der Körper des Jungen. Wie eine Rose, deren Knospen sich der Sonne öffnen, reckte sich die Skulptur auf Beinen, die aus Strahlung bestanden.
Sosehr Elena von diesem wundersamen Ereignis in Bann geschlagen war, so ergriff doch eine weitere Empfindung Besitz von ihr - Schmerz. Die rechte Hand brannte, so strahlend wie das Licht des Jungen, als ob die rote Farbe auf ihrer Haut ein flammender Handschuh geworden wäre. Sie riss den Blick von dem Jungen los und betrachtete ihre Faust. Sie sah immer noch gleich aus - kein Feuer umgab die Hand, die sie vor die Brust hielt.
Sie verkrallte die Finger in den Falten ihres Hemdes und versuchte, die imaginären Flammen zu ersticken. Und tatsächlich linderte der Stoff das Brennen der Haut, bis es sich nur noch wie eine Prellung anfühlte. Während sie die Hand nahe bei ihrem Herzen hielt, merkte sie, dass sie irgendwie gegen das Licht des Jungen abgeschirmt war. Dennoch kribbelte ein Teil von ihr in dem wahnwitzigen Drang, zur Quelle des Lichts zu eilen und ihre eigene Macht mit jener zu vereinen. Sie zitterte. Eine seltsame Mischung aus Anziehung und Ablehnung kämpfte in ihrer Brust. Doch da sie sich an die Ermahnung des Verrückten erinnerte, die Statue auf keinen Fall zu berühren, bewegte sie sich nicht von der Stelle und hielt ihre Hand versteckt.
Sie schaute hinüber, wo der narbengezeichnete Mann namens Re’alto zwischen seinen Kobolden stand, und stellte fest, dass er sie anstarrte. Kobolde sprangen ihm aufgeregt um die Beine herum, ihre Schwänze peitschten hin und her. Die Veränderung der Statue hatte sie offenbar erschreckt. Ein Kobold versuchte, an Re’altos Bein hinaufzuklettern, und schlug seine scharfen Krallen in dessen Schenkel. Der Mann rührte sich nicht, außer um das Wesen wegzuschlagen. Blut lief in dicken Rinnsalen an seinem Bein hinunter, dennoch blieb sein Blick starr auf ihr haften.
Anscheinend merkte er, dass sie ihn auch ansah. Aus der Entfernung formte er mit dem Mund ein Wort, das offenbar für sie bestimmt war. Obwohl sie nichts hörte, wusste sie, welches Wort ihm über die hassverzerrten Lippen kam: »Hexe«.
Sie wand sich unter dem höhnischen Grinsen und den wahnsinnigen Blicken und versuchte, sich in den Fels zu verkriechen, um dem Gefühl des Ekels zu entrinnen. Zum Glück trat Onkel Bol neben sie und unterbrach die Verbindung zwischen ihr und dem Verrückten. Er legte ihr den Arm um die Schulter. Erleichtert schmiegte sie sich in seine Umarmung.
»Es ist, als ob Chi hier wäre«, murmelte ihr Onkel, ohne den Blick von der Statue zu wenden. »Ich spüre den Hauch des alten Geistes in der Luft.«
Elena versank noch tiefer in seinen Armen. Auch sie spürte den Widerhall einer Kraft aus der Vergangenheit. Dieser Geist sprach zu ihrem Blut, bedrängte sie. Doch ihre Hand schmerzte und pochte noch immer - eine deutliche
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