Alasea 01 - Das Buch des Feuers
diesem Bann ergriffen waren, begann die Frau zu spielen. Die Süße der Musik breitete sich im Raum aus; sie kündete von glücklicheren Zeiten, helleren Tagen als diesem wolkenverhangenen Tag, der soeben ausgeklungen war. Der Gaukler sah zu, wie ihre Finger über das Holz und die Saiten tanzten. Dann tat sie etwas ganz Bemerkenswertes: Sie begann zu singen. Ihre Stimme hob leise an, kaum zu unterscheiden von den honigsüßen Akkorden, doch während sie weiterspielte, erhob sich ihre Stimme, verband eine Harmonie mit der anderen. Obwohl er die Sprache, in der sie sang, nicht verstand, spürte er die Bedeutung der Worte. Sie sang vom Vergehen der Jahre, vom Wandel der Gezeiten, dem Kreislauf, dem alles Leben unterliegt.
Die Menge saß gebannt auf den Stühlen. Ein Mann hustete, und seine Nachbarn warfen ihm böse Blicke zu, als ob er eine schlimme Beleidigung geäußert hätte. Die Übrigen jedoch missachteten ihn und starrten mit offenen Mündern zur Bühne.
Sie spielte und sang weiter, war sich ihrer Wirkung anscheinend nicht bewusst. Ihre Stimme veränderte sich auf eine feine Art, und die Akkorde waren nun mehr ein Stöhnen als ein Singen. Sie warnte jetzt vor Gefahren, vor den Zeiten, in denen die Zyklen des Lebens zu einer Bedrohung wurden. Sie sang von zerstörter Schönheit und zerschmetterter Unschuld. Man hörte Trommeln hinter ihrer Stimme und dem Anschlag ihrer Akkorde.
Der Gaukler ertappte sich dabei, dass er sie zu trösten wünschte, dass er ihr sagen wollte, es sei noch nicht alles verloren. Er beobachtete, dass ihre Finger auf der Laute langsamer wurden, während ihre Stimme einen neuen Rhythmus aufnahm, den Schlag eines versagenden Herzens. Langsamer und immer langsamer dehnten sich die Akkorde durch den schmerzvollen Raum aus. Gäste beugten sich zur Bühne vor, versuchten zu verhindern, dass sie aufhörte. Doch sie hörte auf, ein letztes Streichen von Fingerkuppen über Saiten, dann nichts mehr. Nur ein einziger Ton ihrer Stimme hing noch in der Luft. Dann wehte auch dieser mit ihrem Atem davon.
Im Raum herrschte Totenstille, keiner wollte der Erste sein, der sich bewegte. Der Gaukler spürte, wie ihm unerklärlicherweise eine Träne über die Wange rann. Seine Hand bewegte sich nicht, um sie wegzuwischen. Er ließ sie rinnen. Viele andere Augen und Wangen im Raum waren feucht.
Er hatte geglaubt, dies sei das Ende gewesen, aber er hatte sich getäuscht. Erneut entschwebte ihrer Laute das Flüstern eines Akkords. Es sah aus, als bewegten sich ihre Finger überhaupt nicht. Es war, als ob die Laute von selbst sänge. Die Musik waberte durch den Raum und strich über die vielen feuchten Wangen. Dann sang ihre Kehle das letzte Stück - von einem Einsamen, der letzte Rest der Helligkeit zwischen Ruinen. Ihre Musik trieb dem Gaukler erneut Tränen in die Augen, als ob ihr Lied ganz besonders ihm gälte. Aber er war sich auch der vielen anderen in dem Raum bewusst, die von dieser Musik berührt wurden, anderer Seelen, die sich auf den Rhythmus einstimmten. Und dann, mit ihrem letzten Akkord, fest und klar wie eine Glocke, und mit dem letzten Flüstern ihres Liedes, spendete sie ihnen allen Trost, ein Wort: Hoffnung.
Dann war es vorbei. Er sah zu, wie sie sich von dem Hocker erhob und dastand.
Die Menge, die die Luft angehalten hatte, atmete nun hörbar weiter. Ein überraschtes Murmeln und ein begeistertes Händeklatschen setzten ein. Die Bühne wurde förmlich gestürmt, und Münzen regneten in ihre Schale. Bevor der Gaukler wusste, was er tat, stand er vor ihr und schüttete Münzen aus seiner Schale in die ihre.
Er blickte hinauf zur Bühne und stellte fest, dass ihre veilchenfarbenen Augen eindringlich zu ihm heruntersahen. Sie hockte jetzt im hinteren Teil der Bühne, anscheinend verstört durch den Tumult um sie herum und die lobenden Zurufe. Sie hielt die Laute fest an die Brust gedrückt.
Plötzlich gab es am Eingang der Gastwirtschaft eine Aufregung. Ein Mann stürmte in den Schankraum. »Bei Bruxton ist ein Feuer ausgebrochen!« brüllte er in die Menge. »Der ganze Obsthain brennt!« Die Menge wogte auf.
Doch der Gaukler beachtete den Aufruhr nicht; seine Augen waren starr auf die Lautenspielerin gerichtet. Das Feuer ging ihn nichts an.
Sie eilte zum vorderen Bühnenrand, zu ihm. Die Bardin kniete nieder und blickte ihm eindringlich in die Augen. »Ich brauche dich, Er’ril von Standi.«
7
Die Feuer erhellten den Horizont hinter Elena. Rauch, schwärzer als die
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