Alasea 01 - Das Buch des Feuers
gesehen? Deine Frau?« Die Menge brach in Gelächter aus, obwohl allenthalben eine deutliche Spur von Unbehagen zu bemerken war.
»Sag es ihnen!« Der Kleine stieß die Schulter des Großen mit einem Finger an. »Los, mach schon!« Er’ril sah einen kurzen Zornesblitz in den Augen des Großen aufzucken, als Simkin ihn auf diese Weise berührte. Es empfahl sich nicht, die Leute aus den Bergen zu etwas zu drängen.
Dennoch räusperte sich der Große - ein Geräusch, als ob die Rinde von einem Baum abgeschält würde. Dann fing er an zu sprechen; seine Stimme war so tief wie die Höhlen, die sich durch die eisbedeckten Gipfel gruben. »Er ist im Zwielicht über den Pass der Tränen geflogen, ganz in der Nähe der Stelle, wo wir leben. Blass wie der Pilz, der auf toten Bäumen wächst, und mit Flügeln von einer Spannweite wie die ausgestreckten Arme von drei Männern. Als das Wesen mit rot glühenden Augen vorbeiflog, gerieten unsere Tiere in Panik, und eine Frau von meiner Sippe erlitt eine Fehlgeburt.«
Niemand wagte es, einen Mann aus den Bergen einen Lügner zu nennen - jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht. Sie waren bekannt dafür, die Wahrheit zu sprechen. Die Menge blieb nach seinen Worten stumm.
Er’ril richtete sich während dieser Aussage auf seinem Hocker auf, der Löffel mit Haferschleim verharrte auf halbem Wege zum Mund. Konnte das sein, nach so langer Zeit? Seit Jahrhunderten war kein solches Wesen mehr gesichtet worden.
Jemand aus dem hinteren Teil des Raums ergriff nun mit leiser Stimme das Wort. »Du bist den weiten Weg gekommen, um uns zu warnen?«
Die Stimme des Mannes aus den Bergen wurde noch tiefer, einem Brummen gleich. »Ich bin gekommen, um es zu töten.«
Er’ril senkte den Löffel und war überrascht, seine eigene Stimme zu hören, die dem Mann aus den Bergen zurief: »War dieses Ungeheuer dürr wie ein Hunger leidendes Kind, mit einer Haut so dünn, dass man hindurchsehen konnte?«
Der Mann aus den Bergen drehte den Bart schwungvoll in Er’rils Richtung. »Jawohl, das schwache Licht der Abenddämmerung schnitt durch den Körper hindurch wie ein Messer. Krank hat es ausgesehen.«
Ni’lahn flüsterte ihm zu: »Weißt du etwas über dieses Geschöpf, von dem er spricht?«
Ein anderer Mann aus der Menge sprach: »Du da, Gaukler, was weißt du über dieses Ungeheuer?«
Alle Augen waren nun auf Er’ril gerichtet. Er bedauerte seine vorlaute Zunge, aber er konnte seine Worte jetzt nicht mehr zurücknehmen. »Es bedeutet Verheerung«, sagte er zu der Menge und warf seinen Löffel auf die Theke. »Für euch besteht keine Hoffnung.«
Erregung breitete sich in der Menge aus. Nur der Mann aus den Bergen stand ruhig zwischen den aufgeregten Leuten. Seine zusammengekniffenen Augen waren starr und entschlossen auf Er’ril gerichtet. Er’ril wusste, dass seine Worte den Riesen nicht erschüttert hatten. Das Blut rann den Bergvölkern kalt wie das Eis der Gipfel durch die Adern, und ihr Gemüt war von der Sturheit des Granitgesteins ihrer Heimat. Todesdrohungen ließen sie selten in einem Entschluss wanken. Er’ril wandte sich von dem Riesen ab.
Ni’lahn fing Er’rils Blick auf und beugte sich näher zu ihm. »Welche Art von Ungeheuer ist das?«
Seine Stimme war ein Flüstern, nur für die eigenen Ohren bestimmt. »Eines von Gul’gothas Schreckensgeschöpfen - ein Skal’tum.«
»Die Ssonne geht auf.« Das Skal’tum stakte durch den dumpfigen Kellerraum der Garnison auf Dismarum zu. Es schüttelte seine Flügel, so wie sich ein nasser Hund im Regen schüttelt. Das Klappern der lederartigen Knochen hallte laut durch den Raum. »Isst alless vorbereitet?«
Dismarum wich einen Schritt zurück. Der in der Zelle herrschende Gestank nach verfaultem Fleisch und Schmutz stieß ihn ebenso ab wie die bedrohliche Erscheinung des Skal’tums. »Rockenheim reitet durch die Lande. Er verbreitet die Kunde über das Mädchen überall in der Stadt. Man wird sie bald finden. Sie kann nur hierher kommen.«
»Wollen wir hoffen, dassss ess soo isst. Dass Sschwarze Herz hungert nach ihr. Enttäusch ess nicht noch einmal.«
Dismarum verbeugte sich leicht und ging rückwärts zur Tür. Er griff blindlings nach der Klinke und stieß die Tür auf. Das morgendliche Sonnenlicht, für seine schwachen Augen kaum wahrnehmbar, flutete die nahe liegende Treppe herunter und lugte durch die Türöffnung, um sich um ihn herum zu ergießen. Dismarum lächelte innerlich, als das Skal’tum vor dem Licht
Weitere Kostenlose Bücher